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Gedanken zur O-Antiphon des 17. Dezember. Von Archimandrit Dr. Andreas Thiermeyer
Eichstätt (kath.net) O Sapientia, quae ex ore Altissimi prodisti, attingens a fine usque ad finem fortiter suaviterque disponens omnia: veni ad docendum nos viam prudentiae .
„O Weisheit, die aus dem Mund des Höchsten hervorging,
die von einem Ende zum andern reicht und alles kraftvoll und milde ordnet:
Komm, und lehre uns den Weg der Einsicht.“
1. Die Weisheit, die atmet – Gottes Nähe im Anfang
Meine Lieben,
wenn die Kirche die O-Antiphonen anstimmt, öffnet sich ein Tor in eine andere Zeit: in die Zeit der Verheißung, in die große Erwartung Israels. Und das erste Wort, das sie ruft, ist nicht ein Name, nicht ein Titel, sondern ein Staunen: „O Sapientia“ – O Weisheit.
Die Väter hätten gesagt: Hier beginnt der Advent nicht bei uns, nicht bei unserem Warten und Sehnen, sondern bei Gott, bei dem geheimnisvollen Ursprung, den niemand erschaut, und dessen erster Ausfluss Weisheit ist – jenes zarte, unaufdringliche Licht, das die Welt durchwirkt, bevor sie Form gewinnt.
Diese Weisheit, sagt die Schrift, ging „aus dem Mund des Höchsten“ hervor (Sir 24). Ein Atemzug Gottes also, ein Hauch, der Welt schafft, Wege eröffnet, Herzen berührt. Die Väter liebten dieses Bild: Aus Gottes Mund kommt nicht nur das Schöpfungswort, sondern auch die Weisheit, die dieses Wort begleitet, wie der Klang den Ton begleitet, wie das Licht den Morgen begleitet.
2. Christus – die lebendige Weisheit Gottes
Origenes, der große Lehrer der frühen Kirche, sagte: Wenn wir von dieser Weisheit sprechen, dann sprechen wir schon von Christus. Denn in ihm, im ewigen Logos, hat Gott sein innerstes Denken ausgesprochen. „Christus“, schreibt er, „ist die Weisheit des Vaters, durch die alles geschaffen ist und durch die alles geheiligt wird.“ 
Athanasius verteidigte diese Wahrheit in schweren Zeiten:
Christus ist nicht ein Gedanke Gottes unter vielen, noch weniger ein Geschöpf, das erst später dazu gekommen wäre. Nein – er ist die Weisheit selbst, ewig beim Vater. Wenn also der Advent „O Sapientia“ ruft, dann ruft er den Sohn Gottes an, der schon war, bevor es ein Oben und Unten gab, bevor Zeit sich zu bewegen begann.
Und doch – und das ist das Wunder – wird diese ewige Weisheit in der Fülle der Zeit ein Kind, ein zarter Mensch, dessen Stimme noch nicht einmal das Wort „Weisheit“ bilden kann. Augustinus hat das in unvergesslichen Worten ausgedrückt: Die Weisheit, die die Sterne ordnet, nimmt ein menschliches Herz an, „damit der Mensch lerne, in Weisheit zu leben“.
3. „Fortiter et suaviter“ – Gottes Macht ist immer Milde
Die Antiphon greift ein Wort auf, das seit Jahrhunderten wie ein Schlüssel die christliche Gotteslehre öffnet: „fortiter et suaviter“ – die Weisheit wirkt kraftvoll und mild.
Die Väter spürten sofort, dass dieser Doppelausdruck das Herz Gottes offenlegt.
• Kraftvoll: Gottes Handeln ist nicht eines unter vielen. Er ist der Ursprung, der die Welt trägt, auch wenn sie aufbricht, scheitert oder zerfällt.
• Mild: Und doch zwingt er nicht. Seine Kraft ist nie brutal, nie laut, nie überwältigend. Sie ist die Kraft, die Türen öffnet, aber nicht einschlägt; die heilt, aber nicht bricht; die trägt, aber nicht erdrückt.
Clemens von Alexandrien hat diese Wahrheit in ein Bild gegossen, das unsere Zeit besonders versteht: Christus ist wie ein Neues Lied, das der Welt eine neue Harmonie schenkt. Er zwingt die Elemente nicht in Ordnung, er stimmt sie. Er lässt die Welt klingen, wie sie klingen soll.
Ist das nicht genau die Weisheit, deren wir bedürfen – in einer zerbrechlichen Welt, in polarisierten Gesellschaften, in unruhigen Herzen? Nicht mehr Härte, sondern eine Kraft, die mild ist; nicht mehr Geschwindigkeit, sondern eine Ordnung, die heilt.
4. Weisheit als Weg – nicht als Theorie
Am Ende der Antiphon steht eine Bitte, die direkt in unser Leben hineinführt:
„Komm und lehre uns den Weg der Einsicht.“
Die Väter betonten immer wieder: Weisheit ist kein System und kein Wissen. Sie ist ein Weg. Ein Lebensstil. Eine Art, die Welt zu sehen und zu gestalten.
• Der Weg der Weisheit führt uns zu einer Kraft, die nicht zerstört, sondern aufrichtet.
• Er führt zu sichtender Klarheit und zugleich zu einem Herzen, das Geduld kennt.
• Er führt zu einer Ordnung im Inneren, die es dem Menschen erlaubt, auch im Äußeren Frieden zu stiften.
Boethius, der in Gefangenschaft die Weisheit als Trost entdeckt, sagt: Wer auf die Weisheit hört, der erkennt, dass selbst die dunkelste Stunde von einem höheren Sinn getragen ist. Thomas von Aquin ergänzt: Die Weisheit führt jedes Ding zu seinem Ziel – und auch uns. Gerade wenn wir unser Ziel längst nicht mehr erkennen.
Vielleicht ist dies der adventliche Ruf nach uns heute:
Lass dich ordnen. Lass dich führen. Lass zu, dass Gottes Weisheit das Ungeordnete in dir berührt – nicht hart, sondern „fortiter et suaviter“.
5. Israel beten – Christus erkennen
Die Antiphon führt uns zurück in die Sprache Israels. In ihr erklingt das Erbe eines Volkes, das die Weisheit Gottes suchte wie kostbares Gold. Die Kirche betet diese Worte nicht statt Israel, sondern mit Israel – und erkennt darin jenes Licht wieder, das in Christus aufstrahlt.
Gerade diese Demut macht die O-Antiphonen so reich: Sie sind kein Triumphgesang, sondern ein Hören auf die uralte Stimme der Weisheit, die zuerst durch die heilige Geschichte Israels gesprochen hat.
6. Schluss: Die Weisheit, die kommt
Schwestern und Brüder,
„O Sapientia“ ist ein Ruf in die Tiefe Gottes – und zugleich ein Ruf in die Tiefe unseres eigenen Lebens. Wir bitten die Weisheit, die den Kosmos trägt, dass sie uns ordne, uns führe, uns erneuere.
Vielleicht darf es heute ganz schlicht so klingen:
Weisheit Gottes,
du Ursprung aller Dinge,
du mildes Licht in allen Schatten,
du stille Kraft in allen Stürmen:
Komm zu uns.
Öffne uns den Weg der Einsicht.
Ordne, was verworren ist.
Heile, was zerbrochen ist.
Stärke, was schwach geworden ist.
Und lehre uns zu leben in deiner göttlichen Harmonie.
So beginnt der Advent:
Nicht mit dem Lärm der Welt,
sondern mit dem Hauch der Weisheit,
die still und leise kommt –
und alles neu macht.
Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer ist der Gründungsrektor des Collegium Orientale in Eichstätt. Er ist Theologe mit Schwerpunkt auf ökumenischer Theologie, ostkirchlicher Ekklesiologie und ostkirchlicher Liturgiewissenschaft. Er studierte in Eichstätt, Jerusalem und Rom, war in verschiedenen Dialogkommissionen tätig. Er veröffentlicht zu Fragen der Ökumene, des Frühen Mönchtums, der Liturgie der Ostkirchen und der ostkirchlichen Spiritualität. Weitere kath.net-Beiträge von ihm: siehe Link.
Symbolbild (c) Pater Andreas Fritsch FSO
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