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| Ja, wir hatten ein Halbes für das Ganze gehalten26. September 2013 in Buchtipp, keine Lesermeinung "Ich wuchs auf in einer Welt, in der das Böse überwunden und vernichtet schien. Alles Böse war früher." Leseprobe 2 aus Raphaël Die Wiederkehr eines Erzengels von Paul Badde Rom (kath.net) Die ersten Bilder Jerusalems und Bethlehems, den Jordan und die judäischen Hügel lernte ich dazu von klein auf an der Hand meiner Eltern auf den Altartafeln unserer Dorfkirche kennen, auch den Kreuzweg, Maria Magdalena und das Schweißtuch Christi, das auf manchen Bildern von Engeln, auf anderen von einer Frau namens Veronika gehalten und emporgehoben wird. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass uns irgendetwas fehlte, auch wenn meine Eltern das wohl bisweilen ganz anders sahen. Ich war ja ein Kind. Mein Vater war als Gefreiter in den Zweiten Weltkrieg gezogen und als Gefreiter aus dem Krieg herausgekommen. Karriere hatte er nicht gemacht, aber er hatte mit der Wehrmacht die Welt kennengelernt, wie die Fotos festhielten, die meine Mutter in das Familienalbum eingeklebt hatte. Er war mit seiner Flak-Einheit nach Paris gekommen, an die Kanalküste, nach Rumänien, nach Russland, auf die Krim und nach Stalingrad, wo er mit einer der letzten Maschinen ausgeflogen wurde, weil meine Mutter ihm wieder einmal einen Sohn geboren hatte, meinen Bruder Werner. Danach war der Kessel an der Wolga zu, und er konnte nicht mehr zurück. Im Album klebte auch ein frühes Familienfoto (ohne mich und Klaus), das an zwei Ecken verkohlt war, weil mein Vater es nach einem Angriff an der Front aus seinem brennenden Biwak gerettet hatte. Viele seiner Kameraden waren tot oder in russische Gefangenschaft geraten, was fast auf das Gleiche herauskam. Auch Hitler war tot und die Nazis nicht mehr da. Ich wuchs auf in einer Welt, in der das Böse überwunden und vernichtet schien. Alles Böse war früher. Es war vergangen oder sehr ferne. Im Zeitalter des Kalten Krieges war die Welt des Westens deshalb im Grunde auch eine Welt ohne Russen und Chinesen, die heute Städte wie Rom und Jerusalem und den Rest der Welt überfluten. Was ich in meiner Jugend und viele damals für die ganze Welt hielten, war deshalb höchstens die Hälfte der Welt oder noch viel weniger. Ja, wir hatten ein Halbes für das Ganze gehalten. Das mag vielen heute völlig unwahrscheinlich erscheinen, auch wenn es uns in gewisser Weise wohl immer so gehen mag. Doch ich will nicht abschweifen. Ein Jahr vor meiner Geburt war mein Vater als nervös gewordener frommer Friseur aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft in Bensheim an der Bergstraße zu meiner Mutter und meinen vier älteren Brüdern zurückgekehrt an den Niederrhein. Ein Held war er nie gewesen. Meine Mutter erzählte, dass er vor dem Krieg mit ihr oft Umwege gemacht habe und der marschierenden SA ausgewichen sei, um vor den Uniformierten nicht den Arm für den Hitlergruß recken zu müssen. Was er im Krieg genau gemacht hat, weiß ich nicht und werde es nie mehr erfahren. Als ehemaliger Friseur vom Krefelder Stadt-Theater hatte er einen alten Karton mit Schminkutensilien und eine Perücke mit Glatze, die mich faszinierte. Das einzige Mitbringsel aus Krieg und Gefangenschaft waren ein Wams aus hartem Drillich mit inwendigem Katzenfell und ein olivfarbener wollener Ohrenschutz, der sich wie ein offener Strumpf über den Kopf ziehen ließ. Beides habe ihm das Leben gerettet, erzählte meine Mutter. Dafür sei er mit dem Gefrierfleisch-Orden für das Überleben im russischen Winter ausgezeichnet worden. Es war wohl die einzige Auszeichnung seines Lebens. Morgens beobachtete ich neugierig, wie mein Vater sich an unserem Waschbecken in unserer Wohnküche mit herunterhängenden Hosenträgern vor dem Spiegel mit der Klinge rasierte, die er vorher blitzschnell an einem Ledergürtel abgezogen hatte, und wie das Blut in roten Tropfen durch den weißen Rasierschaum drang, bevor er das Haus mit vier, fünf kleinen Zeitungsschnipseln an den Schnittwunden im Gesicht verließ. Abends kam er gewöhnlich spät von der Arbeit nach Hause zurück. Ich war sein Friedenskind, das erste, das er von klein an aufwachsen sah, doch bevor ich mit ihm ins Gespräch kommen konnte, war er tot. Da war er 52 und hatte zwei Weltkriege überlebt und ich war zehn. Plötzlich war er nicht mehr da, wie seine Kriegskameraden auf den Fotos im Fotoalbum und wie die Juden, von denen mir meine Mutter erzählte. Ihre Herrschaften im fernen Krefeld und Düsseldorf waren ermordet worden. In den 1950er-Jahren waren Flüchtlinge aus dem Osten um uns herum einquartiert worden. Doch es gab keine Juden in meiner Umgebung, weder in meinem Heimatdorf, noch später in Aachen im Gymnasium, noch zu Beginn meines Studiums in Freiburg im Breisgau. Ich sah sie nicht und erkannte sie nicht. Es gab sie in der Bibel und in Geschichtsbüchern. Lebendig vermutete ich sie mehr oder weniger unbewusst nur noch im fernen Israel, wo sie heldenhafte Kriege kämpften und wo sie einen gewissen Eichmann vor Gericht gestellt hatten. In Deutschland waren sie unsichtbar, zumindest für mich. Es war mir ganz unvorstellbar, dass nach dem Massenmord noch einige hier geblieben waren. Außerhalb des Elternhauses, wo meine Mutter von ihnen erzählte, kamen wie gesagt auch die Nazis und ihre Verbrechen nicht vor in meiner Jugend, zumindest nicht in meiner Wahrnehmung. Es war ein Missverständnis, wie ich längst weiß, es war eine Täuschung, aber so war es. Ich las damals keine Zeitungen und fand sie langweilig, mit all ihren Debatten um dieses oder jenes Thema, und sehr, sehr lange schauten wir auch noch kein Fernsehen. Lebendiges Judentum, das damals komplett ausgerissen und nicht existent schien, lernte ich deshalb erst mit etwa zwanzig Jahren näher kennen und auch nicht direkt, sondern über Robert Zimmermann alias Bob Dylan aus Duluth im fernen Minnesota und aus New York, und zwar im Radio und vom Plattenspieler. Seiner Musik lauschte ich in den 1960er- und 1970er-Jahren unzählige Stunden lang mit Freunden. Mit dem, was ich für seine jüdische Stimme hielt, hatte er mich vollkommen in Bann geschlagen. Bob Dylan, der auf dem Cover seines Freewheeling-Albums von 1963 an einem eisigen Februartag verfroren mit seiner Freundin Sue Rotolo die Jones Street in Greenwich Village hinabstapfte, das war ich (mit meiner Freundin Helga), frühmorgens in der Telemannstraße im Frankfurter Westend. Nur zehn Jahre später. Aus meiner hilflosen Sehnsucht, mich aus einer Beziehung zu lösen und zu befreien, der nach meiner Überzeugung Wahrheit und Zukunft fehlte, hatte Dylan schon zehn Jahre zuvor hinreißende Lieder gemacht. Oft war es mir, als hätte er Träume und Hintergedanken von mir belauscht, die ich noch keinem erzählt hatte. Es war, als würde er aus geheimen Quellen schöpfen, als könne er zaubern. Seither faszinierte mich alles Jüdische. Es war, als würde das vorherige Manko einen einzigartigen Sog für mein Leben entfesseln und es war, wie ich längst weiß, irgendwie sehr deutsch. Mein Schicksal ist sehr deutsch. Ich bin kein Meister, aber doch ein alt gewordener Lehrling aus Deutschland, wo die kosmischen Verbrechen der Nazis erst im Lauf meines Lebens zu einer immer stärker sprudelnden Quelle der Inspiration und des Grauens wurden bis heute, wenn ich mir nur das Fernsehprogramm des letzten Abends oder die Debatten der letzten Wochen anschaue. Die Vergangenheit will hier nicht nur nicht vergehen, sondern kommt im Gegenteil immer stärker und lebendiger zurück in den Blick. Es ist ja längst eine Binse. Doch das war in den 1970er-Jahren noch ganz anders. Da waren wir mit einigen Freunden und mit Bob Dylan fast allein in dieser Geschichte. Freunde und die Freundin wechselten, Dylan blieb. kath.net-Buchtipp:
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