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Ohne Judentum steht das Christentum auf tönernen Füßen

28. September 2013 in Buchtipp, keine Lesermeinung
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"Es war ein unerhörter neuer Ton in unserem Leben, merkwürdig vertraut, obwohl wir ihn nie vorher vernommen hatten, und ich wusste: Dieser uralte Ton hat Zukunft." Leseprobe 4 aus „Raphaël – Die Wiederkehr eines Erzengels“ von Paul Badde


Rom (kath.net) Als Kind hatte ich die Kirche geliebt, weil meine Mutter sie geliebt hatte. Diese Liebe war mir ganz abhandengekommen. Jetzt liebte ich Bob Dylan und liebte es, mir mit meinen Freunden den Kopf über seine Lieder zu zerbrechen, die mich begeisterten. Englisch habe ich weniger in der Schule als von ihm gelernt. Ich studierte Geschichte an der Frankfurter Uni, doch unser Leben hatte – immer noch – fast keine Vergangenheit. Es gab eine Geschichte in den Büchern – und es gab die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die gerade einmal so alt war wie ich selbst. Davor und dahinter öffnete sich ein unverständlicher Abgrund.

Nur Jerusalem hatte in diesem Jenseits als merkwürdige Schnittmenge zwischen den täglichen Nachrichten und der Geschichte der Welt und der Kindheit überlebt, auch als ein Ort der Sehnsucht, von dem ich früh träumte. Es war die Stadt, in der ich mich irgendwie am besten auskannte, besser jedenfalls als in Mönchengladbach oder Aachen oder Krefeld oder in anderen deutschen Städten mit ihren Ruinen und den großen Parkplätzen mitten in der Innenstadt, wo einmal dicht besiedelte Häuserzeilen gestanden hatten, oder als in Frankfurt am Main, wo wir Mitte der 1970er-Jahre lebten; in der Stadt, in der meine Frau mir eines Tages den „Babylonischen Talmud“ in der Taschenbuchausgabe des Wilhelm Goldmann Verlages von 1963 aus einer Buchhandlung als Geschenk in unsere Mansarde brachte. „Man schreibt den 25. September im Jahre 1975“, steht vorne mit schwarzem Kuli in ihrer Widmung. Ich habe das Buch schon Jahrzehnte nicht mehr in der Hand gehabt. Es ist zerfleddert wie kein anderes unserer Bücher, voller Papierstreifen, um Stellen und Seiten leichter wiederzufinden, und vollgekritzelt, mit tausend unterstrichenen Passagen. Brüchige Tesafilm-Reste kleben an dem losen Einband, den das Relief eines siebenarmigen Leuchters aus dem Bode-Museum in Berlin ziert. Mit Klebeband hatte ich auch versucht, das dicke Taschenbuch mit den vergilbten 670 Seiten zusammenzuhalten. Es war nicht von Dauer. Seit Langem steckt das Buch in seinen Einzelteilen in unserem Regal und hat doch all unsere Umzüge überlebt. 1975, als wir darin zu lesen begannen, war es, als hätten wir einen Schatz entdeckt, von dem wir bis dahin noch gar nichts geahnt hatten.

Ohne Judentum steht das Christentum auf tönernen Füßen, hat meine Frau irgendwo an den Rand des Textes geschrieben. Ich schlage bei einem der abgerissenen und eingehefteten Merkzettel auf und lese, auf Seite 189: „Seit dem Tage, da das Heiligtum zerstört ist, gibt es keinen Tag, der keinen Fluch hätte; es steigt der Tau nicht zum Segen herab, und der Geschmack der Früchte ist weggenommen. Nachdem Rabbi Meïr gestorben war, gab es keine Gleichniserzähler mehr. Nachdem Rabbi Asais Sohn gestorben war, gab es keine Fleißigen mehr. Nachdem Somas Sohn gestorben war, gab es keine Ausleger mehr. Nachdem Rabbi Akiwa gestorben war, gab es die Herrlichkeit der Weisung nicht mehr“. Ich könnte mit dem Abschreiben solcher und anderer Zitate fortfahren, auch vierzig Jahre später noch. Es war ein unerhörter neuer Ton in unserem Leben, merkwürdig vertraut, obwohl wir ihn nie vorher vernommen hatten, und ich wusste: Dieser uralte Ton hat Zukunft.


Im Talmud, so fanden wir damals heraus, hatte alles Platz, jede Erzählung, jeder Widerspruch, auch jede noch so absurd scheinende Wendung. Um so aufregender wurde es, als wir irgendwann entdeckten, dass die Schriften des Evangeliums über das Auftreten und die Passion Jesu von Nazareth, die wir von Kindesbeinen an kannten und die so wunderbar in diese Denkweise hineinpassten, darin nicht enthalten waren. Der Talmud war ein Ozean, doch für das Evangelium war kein Platz in ihm. Irgendwie schien das Evangelium aus dieser Welt vertrieben, wie auch die Apostelgeschichte, in der Paulus an einer Stelle sagt: „Ich bin ein Jude, geboren in Tarsus in Zilizien, hier in dieser Stadt erzogen, zu Füßen Gamaliels genau nach dem Gesetz der Väter ausgebildet, ein Eiferer für Gott, wie ihr alle es heute seid“. Wir waren zu dieser Zeit immer noch weit weg von der Kirche. Das Judentum führte uns jetzt wieder zu ihr zurück. Im Talmud, so kam es uns vor, hatten wir Wurzeln gefunden, die uns immer gefehlt hatten. Auf dem Flohmarkt am Frankfurter Mainufer kauften wir – noch vor unserem ersten Weihnachtsbaum – einen siebenarmigen Leuchter, der damals bei jedem unserer kleinen Feste brannte. Es war Licht aus einer Welt, die mich beglückte.

An der Uni und unter Kommilitonen und Freunden hingegen spielte Religion, wie gesagt, damals keine Rolle mehr. In dieser gottfernen, sterilen Welt machte mich das Judentum eifersüchtig. Dieser Reichtum des Geistes. Diese Lebendigkeit. Damals entdeckten wir auch Isaak Bashevis Singer und lasen jede Zeile aus seiner Hand, derer wir habhaft werden konnten. Seine in New York in dem alten Jiddisch seiner polnischen Heimat geschriebenen Texte verblüfften, wie vorher schon Dylans Lieder, durch seinen Witz und eine märchenhafte Vertrautheit mit den eigenen Erfahrungen. „Wenn es so etwas wie Wahrheit gibt, so ist sie so verschlungen und verborgen wie eine Krone aus Federn,“ schrieb Singer an einer Stelle in einer Geschichte aus seinem Heimatdorf Leoncin hinter Warschau. Von einer rätselhaft zeichenhaften „Krone aus Daunenfedern“, die sich nach dem Tod eines gequälten Kindes in dessen Kopfkissen fand, hatte mir allerdings auch meine Mutter in einer Geschichte aus ihrem Heimatdorf Bleialf hinter Malmedy in der Eifel erzählt.

Plötzlich wurde uns in dieser Zeit gewahr, dass das Hochhaus hinter den Kastanien gegenüber unserer Mansarde am unteren Ende des Röderbergwegs in Frankfurt eine Art jüdisches Ghetto war, in dem hoch oben die ganze Nacht über immer ein Licht brannte, das erst morgens in der Dämmerung gelöscht wurde. Die Klingelschilder trugen Namen wie Silbermann, Goldberg, Weinreb, Himmelreich und Rosenkranz oder Weiß und Grün und andere Namen der Farbpalette.

Juden mitten in Frankfurt! Mitten in der Stadt, mitten im Leben und nicht nur in der Literatur. Als unsere Nachbarn! Unseren Sohn Jakob nannten wir später so, weil wir eine Mutter aus diesem Haus uns gegenüber immer ihren kleinen Sohn so rufen hörten – und nicht wegen eines Großvaters mütterlicherseits, der auch so hieß. Eines Tages entdeckten wir, dass in Frankfurt am Main Sabbat gefeiert wurde: In einer Gruppe von Männern im Sonntagsstaat, die hintereinander am Freitagnachmittag den Röderbergweg hochtippelten, erkannten wir fromme Juden im Gespräch mit ihrem Rabbi auf dem Weg zur Synagoge. Es war diese Zeit, kurz nach der Geburt unseres Sohnes Joseph, als auch wir anfingen, sonntags wieder in die Kirche zu gehen. Die einzigartige Hochschätzung des Sabbats im Talmud hatte uns dazu inspiriert. Mit der Entdeckung des Sonntags kam die Gliederung der bis dahin ungeschiedenen Zeit wieder in unser Leben zurück. Es war ein radikaler Bruch unserer Gewohnheiten, sonntags keiner einzigen Arbeit mehr nachzugehen, egal wie dringend sie auch scheinen mochte.

Stattdessen besuchten wir nun Sonntagsfrüh zunächst die Gottesdienste der Pfarrei Liebfrauen im Stadtzentrum. Nach der Sonntagsmesse gingen wir nebenan ins Café Hauptwache, um bei einer Tasse Tee über die vertraut-fremden Evangelientexte zu sprechen, die wir gerade gehört hatten – wobei uns schon am zweiten Sonntag gewahr wurde, dass die vielen alten Männer, die sich um uns herum im Gespräch an die kleinen Tische drängten – als einzige Gäste außer uns um diese Zeit am Sonntagvormittag! – dass sie so etwas wie der lebendige Kern der jüdischen Gemeinde in Frankfurt waren, die hier ihre kleinen und großen Geschäfte und wohl auch die große Weltpolitik besprachen. Wie im alten Polen. Ein Schtetl im Zentrum der modernsten Stadt der alten Bundesrepublik. Ihre Trenchcoats an den Garderobenständern waren im Winter mit Pelz gefüttert. Wir kamen aus der Liebfrauenkirche dazu, die damals unsere neue Heimat wurde.

An der Battonstraße begann mich um diese Zeit auf dem Weg zum Allerheiligentor rechts eine alte Mauer magnetisch anzuziehen, an der ich schon so oft entlanggeschlendert oder mit der Straßenbahn vorbeigefahren war. Mächtige Bäume ragten über das Gemäuer. Ein verschlossener Park schien dahinterzuliegen, mitten in der Stadt. Es war so friedlich, so fremd. Eines Tages stieg ich deshalb auf die Mauer und sah in den alten jüdischen Friedhof Frankfurts hinab, der mit zahllosen verwitterten Grabsteinen im grünen Gras übersät war, alle aus demselben roten Frankfurter Sandstein. Es war – urplötzlich – der Blick in eine ferne andere Welt. Prag? Jerusalem? Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Ein anderes Jahrhundert. Kein Mensch war in dem Garten. Kein einziges Schild wies draußen an der Mauer auf den Friedhof hin, kein Gedenkstein, erst recht kein Mahnmal. Heute erinnern in derselben Mauer 12 000 Ziegel mit Namen an die 12 000 Frankfurter Juden, die unter den Nazis deportiert und ermordet wurden. Auch Anne Franks Name ist darunter. Damals segelte nur das Herbstlaub langsam in das grüne Gras und auf die roten Steine mit hebräischen Buchstaben herab. Damals war es, als würden wir das jüdische Frankfurt ganz allein entdecken. Wen will es bei dieser Vorgeschichte wundern, dass ich Raphaёl unmöglich ausweichen konnte, als ich erstmals von ihm hörte? ...


kath.net-Buchtipp:
Raphaël. Die Wiederkehr eines Erzengels
Von Paul Badde
Gebundene Ausgabe 224 Seiten;
2013 Herbig
ISBN 978-3-7766-2725-1
Preis 15.50 EUR


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