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Herr bleibe bei uns – Leseprobe 2

30. September 2019 in Buchtipp, 1 Lesermeinung
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Unsere Welt befindet sich am Rande des Abgrunds: Glaubenskrise, Untergang des Abendlandes, moralischer Relativismus und entfesselter Kapitalismus. Leseprobe 2 aus dem neuen Buch von Kardinal Robert Sarah: Herr bleibe bei uns


Linz (kath.net)

Hass auf das Leben

Wider die schweigend hingenommene Barbarei der Euthanasie
Kardinal Robert Sarah

Unsere heutige Gesellschaft ist krank. Alle Päpste des letzten Jahrhunderts haben gegen die Kultur des Todes gekämpft. Im Grunde ist die Situation höchst verwunderlich. Niemand kann den Tod lieben. Wir haben eine natürliche Abwehr gegen den Gedanken an die Letzten Dinge dieser Erde. Trotzdem gewähren die postmodernen Gesellschaften – unter dem trügerischen Deckmantel fortschrittlicher Ideologien – bereitwillig den Tod.

In Evangelium Vitae schrieb Johannes Paul II. im Jahr 1995: »Wie hat es zu einer solchen Situation kommen können? Dabei müssen vielfältige Faktoren in Betracht gezogen werden. Im Hintergrund steht eine tiefe Kulturkrise, die Skepsis selbst an den Fundamenten des Wissens und der Ethik hervorruft und es immer schwieriger macht, den Sinn des Menschen, seiner Rechte und seiner Pflichten klar zu erfassen. Dazu kommen die verschiedensten existentiellen und Beziehungsschwierigkeiten, die noch verschärft werden durch die Wirklichkeit einer komplexen Gesellschaft, in der die Personen, die Ehepaare, die Familien oft mit ihren Problemen allein bleiben. Es fehlt nicht an Situationen von besonderer Armut, Bedrängnis oder Verbitterung, in denen der Kampf um das Überleben, der Schmerz bis an die Grenzen der Erträglichkeit, die besonders von Frauen erlittenen Gewaltakte den Entscheidungen zur Verteidigung und Förderung des Lebens bisweilen geradezu Heroismus abverlangen.

Das alles erklärt wenigstens zum Teil, dass der Wert des Lebens heute eine Art ›Verfinsterung‹ erleiden kann, mag auch das Gewissen nicht aufhören, ihn als heiligen und unantastbaren Wert anzuführen, wie die Tatsache beweist, dass man geneigt ist, manche Verbrechen gegen das werdende oder zu Ende gehende Leben mit medizinischen Formulierungen zu bemänteln, die den Blick von der Tatsache ablenken, dass das Existenzrecht einer konkreten menschlichen Person auf dem Spiel steht. Mögen auch viele und ernste Aspekte der heutigen sozialen Problematik das Klima verbreiteter moralischer Unsicherheit irgendwie erklären und manchmal bei den einzelnen die subjektive Verantwortung schwächen, so trifft es tatsächlich nicht weniger zu, dass wir einer viel weiter reichenden Wirklichkeit gegenüberstehen, die man als wahre und ausgesprochene Struktur der Sünde betrachten kann, gekennzeichnet von der Durchsetzung einer Anti-Solidaritätskultur, die sich in vielen Fällen als wahre ›Kultur des Todes‹ herausstellt.«

Der große polnische Papst war Zeuge der Kriegsgräuel sowie etlicher anderer Schrecken – viele seiner jüdischen Freunde kehrten nicht aus den Vernichtungslagern zurück. Schon lange wusste er, wozu Menschen im Blutrausch fähig sind.

Die internationalen Institutionen arbeiten an der Ausbreitung dieser Kultur des Todes. Erste Zielgruppe der eugenischen und malthusianistischen Politik sind dabei die armen Länder, in denen die Familie noch die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens bildet. Große Stiftungen von westlichen Milliardären entwickeln Programme für die Beseitigung ungeborener Kinder. Es entsteht ein skandalöser Kampf um die Ausbreitung des Todes zu jedem Preis: Hemmungslos zieht eine Wirtschaftsmacht gegen die Schwachen und Wehrlosen aus, um sie auszumerzen.

Welch ein ungeheures Paradox! Der westliche Mensch genießt das Leben in vollen Zügen und bekämpft es zugleich schonungslos. Der Hass auf das Leben ist Hass auf die Liebe. Liebe bringt stets Leben hervor. Wer wahrhaft liebt, besitzt das Leben. Man denke nur an die schönen Worte des heiligen Apostels Johannes: »Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod. Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Menschenmörder und ihr wisst: Kein Menschenmörder hat ewiges Leben, das in ihm bleibt. Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er sein Leben für uns hingegeben hat.

So müssen auch wir für die Brüder das Leben hingeben. Wenn jemand die Güter dieser Welt hat und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Liebe Gottes in ihm bleiben? Meine Kinder, wir wollen nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit. Und daran werden wir erkennen, dass wir aus der Wahrheit sind. Und wir werden vor ihm unser Herz überzeugen, dass, wenn unser Herz uns verurteilt, Gott größer ist als unser Herz und alles weiß. Geliebte, wenn das Herz uns aber nicht verurteilt, haben wir gegenüber Gott Zuversicht.« (1 Joh 3,14-21)


Die Kultur des Todes entspringt einer Gegenkultur von lebenden Toten. Wir haben es mit einer irrigen Vorstellung über das Schicksal des Menschen zu tun. Eine echte Zivilisation beruht auf der Freude über das Geschenk des Lebens.

Der westliche Mensch hat panische Angst vor dem Gedanken, leidvoll sterben zu müssen. Welchen Sinn hat ein weiterer Verbleib auf Erden, wenn das Vergnügen ausbleibt? Wie bei der Abtreibung können wir auch auf diesem Gebiet eine Manipulation im Wortgebrauch beobachten, welche auf eine schnelle Gesinnungsänderung abzielt. Man spricht von einem »würdevollen Sterben«. Denn wer will schon qualvoll sein Leben beenden? Die Befürworter der Sterbehilfe nutzen die moralische und psychische Not der Kranken und ihrer Angehörigen am Lebensende aus, um deren Sichtweise zu beeinflussen. Sie legen falsches Mitleid an den Tag, das jedoch nichts weiter als ein heuchlerischer Todesstoß ist.

Seit jeher begleitet die Kirche die Todgeweihten. Wie viele Priester und Ordensleute haben zahlreiche Stunden am Sterbebett gewacht. Am Ende ihres irdischen Weges brauchen die Menschen keine kalte Spritze, die ihren Herzschlag lähmt. Sie brauchen eine mitfühlende, liebende Hand. Wieder denke ich an die erschütternden Worte von Mutter Teresa: »Unsere Armen sind großartige Leute, sie sind liebenswerte Menschen. Sie brauchen nicht unser Mitleid und unsere Sympathie, sie brauchen unsere verstehende Liebe. Sie brauchen unseren Respekt, sie wollen, dass wir sie mit Liebe und Achtung behandeln. Und ich fühle, dass es die größte Armut ist, dass wir dies erfahren, dass wir es erst verstehen lernen müssen, wie der Tod unserer Leute ist.

Ich vergesse es nie, wie ich einst einen Mann von der Straße auflas. Er war mit Maden bedeckt. Sein Gesicht war die einzige Stelle, die sauber war. Ich brachte den Mann ins Heim für Sterbende und er sagte nur einen Satz: ›Ich habe wie ein Tier auf der Straße gelebt, aber nun werde ich wie ein Engel sterben, geliebt und umsorgt.‹ Und er starb wunderschön. Er ging heim zu Gott. Der Tod ist nichts anderes als ein Heimgang zu Gott. Ich spürte, er erfreute sich an dieser Liebe, dass er erwünscht war, geliebt, dass er für jemanden jemand war.«

Würdevoll sterben heißt: geliebt sterben! Alles andere ist eine Lüge! Diejenigen, welche sich mit unermüdlichem Großmut der Palliativpflege widmen, um Schmerzen zu lindern und Menschen liebend in ihrer Einsamkeit zu begleiten, wissen es genau: Es kommt äußerst selten vor, dass ein Kranker Sterbehilfe verlangt. Tut er es doch, verbirgt sich hinter dieser Bitte Verzweiflung. Dass die Sterbehilfe heute zur Debatte steht, liegt meiner Meinung nach daran, dass wir Gesunden die Anwesenheit von Krankheit und Leid nicht ertragen. Die Patienten betteln nach unserer Liebe und unserem Mitleid, aber wir können ihren Blick nicht ertragen.

Wir haben keine Liebe übrig, die wir ihnen schenken könnten. Unserer Gesellschaft mangelt es an Liebe, also möchte sie die Personen loswerden, die sie am meisten brauchen. Geht in die Krankenhäuser. Geht einfach hin und haltet jeden Tag die Hand eines kranken oder alten, einsamen Menschen! Ich bitte Euch, setzt euch dieser Erfahrung aus, und ihr werdet es bin in Euer Innerstes spüren, was es heißt zu lieben! »Ich schlage Ihnen vor, einander zu lieben, bis es weh tut. Und vergessen Sie nicht, dass es viele Kinder, viele Frauen, viele Männer auf dieser Welt gibt, die das nicht haben, was Sie haben, und denken Sie daran, dass Sie auch jene lieben, bis es weh tut«, sagte Mutter Teresa.

Die Antwort auf die Sterbehilfe ist eine Liebe bis zum Tod! Im Wesentlichen beruht die Sterbehilfe auf einer Wirtschaftslogik: Menschen, die unnütz geworden sind und der Gesellschaft auf der Tasche liegen, müssen entsorgt werden. Rentabilität ist wichtiger als Leben.

Auch die Medien kämpfen eifrig für die Sterbehilfe, indem sie vorgaukeln, sie trage zur Schmerzlinderung bei und bereite auf einen glücklichen, sanften Tod vor. Sie zeigen gerne besonders rührselige Fälle, um die Öffentlichkeit über ihre Emotionen zu gewinnen.

Sterbehilfe ist ein delegierter Selbstmord, eine legalisierte Tötung. Wenn wir in der Achtung vor dem menschlichen Leben auch nur ein klein wenig nachlassen, kann dies unabsehbare Folgen haben. In Belgien und Großbritannien möchte man Sterbehilfe bei Minderjährigen ohne Zustimmung ihrer Eltern erlauben. Steht die Ärzteschaft nicht mehr ausschließlich im Dienst des Lebens? Wird sie etwa zum Tötungsvollstrecker? Manche bezeichnen Sterbehilfe bereits als Therapie. Müssen wir uns bald vor einem Arzt ebenso sehr fürchten wie vor einem Henker?

Ich muss an einen Ausspruch des französischen Genetikers Jérôme Lejeune denken, welcher die Trisomie 21 entdeckte: »Die Stärke einer Gesellschaft zeigt sich in der Achtung, die sie ihren schwächsten Mitgliedern entgegenbringt.«

Die Kirche darf keine Angst davor haben, zu kämpfen, sei es gelegen oder ungelegen. Waren die belgischen Bischöfe mutig genug, als die Sterbehilfe legalisiert wurde? Waren diese Männer Gottes dem guten und sanftmütigen König Philippe, dem würdigen Nachfolger von König Baudouin, eine ausreichend standhafte Stütze, als das Gesetz der Euthanasie für Kinder verabschiedet wurde? Ich weiß, dass die amerikanischen, polnischen, französischen und spanischen Bischöfe großen Mut in all diesen Fragen beweisen.

Wie wird unsere Welt in hundert Jahren aussehen? Abtreibung, Kommerzialisierung des Körpers, sexuelle Abartigkeiten, Gender, Auflösung des Sakraments der Ehe, Sterbehilfe – das sind die zahlreichen Gesichter eines einzigen Kampfes einer westlichen Führungsschicht, die nur drei Prinzipien kennt: Geld, Macht, Vergnügen. Diese Menschen gehen über Leichen von hunderten und aberhunderten schwacher Menschen, die sie wohlwissend geopfert haben werden, um ihre eigene Herrschaft zu erhalten.

Die Kirche ist die letzte Schutzmauer gegen den neuen, makabren, selbstmörderischen Weltethos. Sie muss das Gewissen aller aufklären. Wenn sich die Sonne der Kirche verbirgt, frieren die Menschen. Wir müssen den Mut der heiligen Athanasius und Irenäus wiedererlangen, um diese neuen Häresien aus der Welt zu schaffen. Johannes Paul II. hat uns dazu den Weg bereitet. Bereits 1980, zu Beginn seines Pontifikats, schrieb er in der Enzyklika Dives in misericordia: »Das Bild der Generation, der wir angehören, vor Augen, teilt die Kirche die Unruhe so vieler Zeitgenossen.

Besorgniserregend ist außerdem das Verblassen vieler fundamentaler Werte, die ein unbestreitbares Gut nicht nur der christlichen, sondern ganz einfach der menschlichen Moral, der moralischen Kultur darstellen, wie etwa die Achtung des menschlichen Lebens vom Augenblick der Empfängnis an, die Achtung der Ehe in ihrer unauflöslichen Einheit, die Achtung des Dauercharakters der Familie. Die sittliche Freizügigkeit verletzt vor allem diesen empfindlichsten Bereich des menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Auf der gleichen Linie liegen die Krise der Wahrheit in den zwischenmenschlichen Beziehungen, der Mangel an Verantwortungsbewusstsein im Reden, die nur auf Nützlichkeit ausgerichtete Beziehung von Mensch zu Mensch, das Fehlen des Sinnes für echtes Gemeinwohl und die Leichtigkeit, mit der dieses seinem Zweck entfremdet wird. Schließlich ist noch die Verdrängung des Sakralen zu nennen, die oft zur Verdrängung des Menschlichen wird: Der Mensch und die Gesellschaft, denen nichts ›heilig‹ ist, sind – allem Anschein zum Trotz – dem moralischen Verfall preisgegeben.«

Auch die Enzyklika Evangelium vitae von Johannes Paul II. bleibt ein prophetischer Text, ein Hymnus auf das Leben angesichts einer Welt, in der – um mit den Worten des Papstes zu sprechen – die »Angriffe gegen das Leben« zunehmen, besonders durch Abtreibung und Euthanasie. Das ungeborene Kind kann im Schoß seiner Mutter zum Tode verurteilt werden und die entsetzliche Logik des Kindesmordes am Beginn des Lebens setzt sich in der Euthanasie fort, die erlauben möchte, Schwerstbehinderte und Menschen am Ende ihres Lebens umzubringen. Welch ein erstaunliches Paradox: Während die meisten Gesellschaften die Todesstrafe für Mörder abschaffen möchten, führen sie diese für unschuldige und schwache Menschen ein, vom Kind im Mutterschoß bis zur kranken oder alten Person oder gar bis zu jenen, die ihres Lebens müde geworden sind. In beiden Fällen büßen wir die Solidarität mit Männern und Frauen in schwierigen Situationen ein.

Das Abendland macht sich damit das archaische Gebaren primitiver Stämme wieder zu eigen, die sich selbst das Recht über Leben und Tod ihrer Kinder sowie über einzelne Schichten ihrer Bevölkerung herausnahmen. Abtreibung wie Euthanasie sind neue, scheinbar harmlose Formen einer schweigend hingenommenen Barbarei. Die Medizin darf nicht zum Vollstrecker einer tötenden Macht werden. Die Ärzte sind dazu berufen, das Leben zu schützen, nicht es zu vernichten. Vor vierhundert Jahren schrieb Pascal in seinen Pensées: »Zum Wesen der Macht gehört es, zu beschützen.« Nicht zu morden.

Ich halte es für dringend notwendig, dass die Kirche reagiert und »Oasen des Lebens« schafft: Orte, an denen schwangere Frauen ohne Verurteilung, voller Freude aufgenommen und bis zur Geburt begleitet werden können; Orte, an denen behinderte Kinder bei ihrer Geburt freudig empfangen und nicht als medizinische Pannen behandelt werden; Orte, an denen Kranke in Würde und Liebe sterben können. Einige Ordensgemeinschaften leisten auf diesem Gebiet schon bewundernswerte Arbeit. Ich denke an die Sœurs des Maternités catholiques in Afrika und Europa, und auch an alle, die sich im Bereich der Palliativpflege engagieren. Ich bewundere die bemerkenswerte Arbeit der Maison Jeanne Garnier in Paris, die sich um Kranke an ihrem Lebensende kümmert.

Kardinal Lustiger, sein Nachfolger Kardinal Vingt-Trois und nun auch Bischof Aupetit in Paris haben sich nie gescheut, das Evangelium vom Leben zu verkünden. Dies wäre eine dringliche Aufgabe für alle Bischöfe. In jeder Diözese sollte nicht nur mit Worten gegen die Kultur des Todes gekämpft werden, sondern vielmehr auch damit, eine konkrete Kultur des Lebens aktiv ins Werk zu setzen. Das Evangelium ist kein nettes Gedankenspiel, es muss umgesetzt werden. Jesus sagt uns doch: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.« (Joh 10,10) Die Kirche ist die Grundlage einer Zivilisation des Lebens.

kath.net Buchtipp
Herr, bleibe bei uns!
aus dem Französischen von Hedwig Hageböck
Von Kardinal Robert Sarah und Nicolas Diat
440 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3863572426
fe-medien, Kisslegg
Preis: Euro 20,40

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Lesermeinungen

 Mariat 4. Oktober 2019 

Vergelt`s Gott, Kardinal Sarah für diese wahren Worte!

Euthanasie ist in meinen Augen Selbstmord auf Verlangen. Der Sterbeprozess ist überaus wichtig für einen Sterbenden; er darf nicht abgekürzt werden.


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