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„Die Wahrheit wird uns dankbar werden lassen!“

2. März 2020 in Interview, keine Lesermeinung
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Der Historiker Michael Hesemann zur Öffnung der Vatikanarchive zum Pontifikat Pius XII. und die Forderung nach Aussetzung des Seligsprechungsprozesses. Interview von Yuliya Tkachova


Vatikan (kath.net) Der Historiker und Buchautor Michael Hesemann wird heute bei der Öffnung der Vatikanarchive mit den Dokumenten aus dem Pontifikat von Papst Pius XII. (1876-1958, Wahl zum Papst 1939), dabei sein.

Yuliya Tkachova: Herr Hesemann, am Montag öffnen die Vatikan-Archive ihre Bestände aus dem Pontifikat Pius XII. Werden Sie in Rom dabei sein?

Hesemann: Ja, das werde ich, die Chance lasse ich mir nicht entgehen. Tatsächlich bin ich einer der 60 ersten Historiker, die Zugang zu den Dokumenten bekommen. Da lasse ich mir drei Wochen Zeit, um so viele Ordner wie möglich durchzugehen – und weiß trotzdem, dass auch das nur eine Schneeflocke auf der Spitze des Eisberges ist, denn insgesamt kommen über 15 Millionen Seiten frei. Wobei natürlich das meiste kircheninterne Korrespondenz ist, darunter unzählige Briefe, die von den Gläubigen in aller Welt an ihren Papst geschickt wurden. Die interessieren mich dann weniger. Ich konzentriere mich auf das Thema meines letzten Buches, „Der Papst und der Holocaust“, auf sein Verhältnis zu den Nazis, seine Versuche, Juden zu retten und seine Reaktion auf die Gründung des Staates Israel.

Tkachova: Ein Kollege von Ihnen, Prof. Wolf von der Universität Münster, forderte bereits auf einer Veranstaltung der Deutschen Bischofskonferenz in Frankfurt, den Seligsprechungsprozess auszusetzen, bis alle Dokumente ausgewertet sind. Was sagen Sie dazu?

Hesemann: Ein Armutszeugnis des „Kollegen“. Er war immer gegen Pius XII., wohl weil das politisch korrekter ist. Er unterstützte sogar den US-Journalisten David Kertzer, der dem damaligen Kardinalstaatssekretär Pacelli unterstellte, eine Anti-Rassismus-Enzyklika von Pius XI. auf Bitten von Mussolini (!) vertuscht zu haben. Dabei wissen wir von einem der Zuarbeiter des Papstes, dem deutschen Jesuitenpater Gundlach, dass der Papst selbst mit den Entwürfen unzufrieden war und sie bereits einen Monat vor seinem Tod an ihre Verfasser zurückschickte. Mit dem Tod Pius XI. hatte sich die Sache dann erledigt. Als Pius XII. Papst wurde, erfuhr er von dem Projekt, ließ sich die Entwürfe noch einmal kommen und arbeitete die Grundgedanken in seine eigene Antrittsenzyklika ein. Von einer Vertuschung also keine Spur. Doch für Wolf war das schon ein Grund, Pius XII. niemals seligzusprechen. Dann forderte er, mit der Seligsprechung zu warten, bis die Archive geöffnet sind. Jetzt will er sie aufschieben, bis er höchstpersönlich die letzte der über 15 Millionen Seiten ausgewertet hat. Als ob der Papst auf ihn angewiesen wäre… Doch ich wundere mich über die Deutsche Bischofskonferenz, dass sie Männern wie Wolf ein Forum gibt, während viel kompetentere Pius-Experten wie Michael Feldkamp oder Karl-Joseph Hummel von der Forschungsstelle der Kommission für Zeitgeschichte ignoriert wurden.


Tkachova: Wie steht es denn um den Seligsprechungsprozess?

Hesemann: Der Faktenfindungsprozess war schon 2008 abgeschlossen. Man ist im Vatikan wirklich nicht auf Leute wie Wolf angewiesen, die sich so ungeheuer wichtig nehmen. Dazu gibt es die Relatoren, also die Untersuchungsrichter der Glaubenskongregation! Schon Paul VI., der den Seligsprechungsprozess 1963 eröffnete, ließ vier Historiker die Archive speziell zum Holocaust gründlich durchsuchen und die rund 5500 wichtigsten Dokumente in einer elfbändigen Edition veröffentlichen. Dann hatten sowohl der Postulator wie auch der Relator des Seligsprechungsprozesses Zugang zu allen Akten; am Montag werden die Archive ja nur für uns unabhängige Historiker geöffnet, Vatikanmitarbeiter hatten immer schon Einsicht. Ihr Bericht ist Kern der sehr umfangreichen Positio. Daraufhin stimmte die zuständige Kommission der Selig- und Heiligsprechungskongregation einstimmig für die Seligsprechung Pius XII. Der Bericht dazu wurde Benedikt XVI. vorgelegt, der wiederum zwei unabhängigen Historikern Zugang zu den Akten gewährte. Erst als diese ebenfalls versicherten, nichts gefunden zu haben, was Probleme bereiten können, promulgierte er 2009 den „heroischen Tugendgrad“ des Weltkriegspapstes, die letzte Stufe vor der Seligsprechung. Jetzt wartet man nur noch auf ein beglaubigtes Wunder quasi als „Zeichen des Himmels“, das diese Entscheidung bestätigt. Tatsächlich gab es mehrere Wunderheilungen nach Anrufung um die Fürsprache Pius XII., aber man muss halt sicher sein, dass die Heilung dauerhaft und medizinisch unerklärbar ist und daher mehrere medizinische Gutachten einholen. Das braucht seine Zeit. Ich bin aber zuversichtlich, dass die Seligsprechung in den nächsten Jahren erfolgen wird. Vielleicht hat Papst Franziskus gerade darum die Archive vorzeitig öffnen lassen, um den Pius-Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Tkachova: Wie kommen Sie darauf?

Hesemann: Am 12. Dezember 2018 hatte ich eine sehr schöne Begegnung mit dem Papst, dem ich in einer Audienz mein Buch „Der Papst und der Holocaust“ übergab. Es beruht ja auf den bereits veröffentlichten 5500 Dokumenten. Sie wissen bestimmt, wie es bei den Mittwochsaudienzen zugeht. Da bekommt der Papst Dutzende neuer Bücher überreicht, jeder hat sein Anliegen und er antwortet meist mit den gleichen Worten: „Bitte beten Sie für mich!“. Also hatte ich mir überlegt, wie ich seine Aufmerksamkeit gewinnen, wie ich sein Herz berühren könnte. „Pius XII. hätte es verdient, nicht nur seliggesprochen zu werden“, erklärte ich dem Heiligen Vater, „er hätte es auch verdient, zum Schutzpatron aller Flüchtlinge und Flüchtlingshelfer ernannt zu werden. Immerhin hat er für Zehntausende Visa besorgt, hat fast eine Million verfolgte Juden gerettet. Die Belege finden Sie in meinem Buch“. Ich bemerkte, dass Franziskus plötzlich ganz aufmerksam wurde. Vielleicht hatte ich ihm gerade eine Perspektive eröffnet, die ihm bis dahin noch nicht in den Sinn gekommen war. „Das ist sehr interessant“, antwortete er mir, „ich danke ihnen. Aber bitte beten Sie für mich.“ Zweieinhalb Monate später gab er die Öffnung der Archive bekannt. Gut möglich, dass dieses Zusammentreffen nur ein Zufall war. Vielleicht aber hat er auch noch etwas vor. Immerhin hatte er schon im Oktober 2018 erklärt, Pius XII. sei ein „aufrichtiger Freund der Menschheit und treuer Diener des Evangeliums, zu dessen Werte er die Menschen guten Willens unablässig aufrief.“ Das macht doch Hoffnung!

Tkachova: War es nicht ziemlich gewagt, ein Buch zu dem Thema zu veröffentlichen, bevor die Archive geöffnet wurden? Warum haben Sie nicht gewartet?

Hesemann: Ich hatte zehn Jahre gewartet, nichts war geschehen. Also wertete ich die bereits veröffentlichten 5500 Dokumente aus, die ein ziemlich klares Bild ergaben. Was in ihnen steht ist ja Fakt, das kann zwar durch neue Archivfunde ergänzt, nie aber entkräftet werden. Mit meinem Buch wollte ich beweisen, dass die Kirche keine Angst vor der Wahrheit zu haben braucht, um eine Formulierung des Papstes zu benutzen.

Tkachova: Sie erwarten also keine großen Überraschungen, wenn die Archive geöffnet sind?

Hesemann: Wir wissen, dass Papst Pius XII. schon 1939 ganze 200.000 deutsche Juden evakuieren wollte, er fand nur keine Regierung, die ihm ausreichend Visa zur Verfügung stellte. Wir wissen, dass er dreimal gegen die Schoah protestiert hat. Wir wissen weiter, dass der Vatikan in über 40 diplomatischen Interventionen versuchte, Deportationen von Juden in die Ostgebiete und die Konzentrationslager zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Wir wissen, dass er zehntausenden Juden zur Flucht verhalf und Tausende in kirchlichen Einrichtungen verstecken ließ. Ich hoffe jetzt, dazu schriftliche Anweisungen zu finden und noch ein paar bislang unbekannte, beeindruckende Beispiele. Jedes davon wäre eine Sensation, aber es ändert nichts am großen Bild.

Tkachova: Planen Sie ein neues Buch?

Hesemann: Zu diesem Thema nicht. Was ich finde, werde ich veröffentlichen – in Artikeln hier auf kath.net und auf meiner homepage. Zudem werde ich mein Buch ergänzen – für die englischsprachige Ausgabe, die im nächsten Winter erscheint und für die zweite Auflage auf Deutsch. Das Problem aber ist nicht, dass es uns an Belegen mangelt, wenn wir Pius XII. als Vorbild im Glauben und Handeln gerade in dieser dunkelsten Stunde der Geschichte verstehen. Sondern dass es Menschen gibt, die sich immer noch an die schwarze Legende aus der Propagandaküche des KGB halten, der Papst habe zum Holocaust geschwiegen, die verfolgten und ermordeten Juden seien ihm gleichgültig gewesen. Tatsächlich tat er mehr, um Menschenleben zu retten – jüdisches Leben! – als irgendein anderer Zeitgenosse. Über 964.000 Juden, so weise ich in meinem Buch nach, verdanken ihm das Überleben. Aber für Männer wie Wolf gilt nach wie vor das Motto: Stören Sie mich bitte nicht mit den Fakten, ich habe mir meine Meinung bereits gebildet. Allen anderen aber sage ich: Die Zeit für die Wahrheit ist gekommen. Und diese Wahrheit kann uns Katholiken nicht nur frei, sondern auch dankbar werden lassen.

Tkachova: Danke für dieses Interview!

Michael Hesemann ist Historiker und Autor diverser Bücher zur Kirchengeschichte. Im letzten Jahr erschien „Der Papst und der Holocaust. Pius XII. und die geheimen Akten im Vatikan.“ Er recherchierte u.a. in den Akten der Seligsprechungskongregation und im Geheimarchiv des Vatikans.

kath.net-Buchtipp
Der Papst und der Holocaust
Pius XII und die geheimen Akten im Vatikan. Erstmalige Veröffentlichung der brisanten Dokumente
Von Michael Hesemann
Hardcover, 320 Seiten; 30 SW-Fotos;
2018 Langen/Müller
ISBN 978-3-7844-3449-0
Preis Österreich: 28.80 EUR

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