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Der Feuerfunke des Glaubens

30. August 2011 in Weltkirche, 7 Lesermeinungen
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Aus dem Schülerkreis von Papst Benedikt XVI.: Der Vortrag von Otto Neubauer über die Erfahrungen der Gemeinschaft Emmanuel mit Neuevangelisierung


Castel Gandolfo (kath.net/ZENIT) Am letzen Tag des Treffens des Ratzinger Schülerkreises hielt Otto Neubauer, der Direktor des Evangelisationszentrums der Gemeinschaft Emmanuel in Wien, einen Vortrag über die Neuevangelisierungsarbeit seiner Gemeinschaft.

Zenit dokumentierte den gesamten Wortlaut des in deutscher Sprache gehaltenen Vortrages:


Heiliger Vater! Geschätzte Teilnehmer/innen des „Schülerkreises“!

Ich gestehe, meiner Neigung gemäß wollte ich Ihnen sofort von all dem Reichtum der unzähligen Erfahrungen aus 20 Jahren Gemeindemissionen neuen Stils in Österreich und Deutschland erzählen; von den sog. Erfolgen unserer groß angelegten Stadtmissionen von Wien über Paris bis nach Budapest, die eine „kräftige Leuchtspur durch Europa“ gezogen haben – wie manche Medien berichteten.

Aber es scheint mir angemessener, die „Armut“ als Brücke zu den Menschen, in den Mittelpunkt der Neuevangelisierung stellen. Was zeigen uns vor allem einzelne Menschen, „Bekehrte“ oder „Neuevangelisierte“ von heute? Die Reflexionen über den Lernprozess, den wir in der Neuevangelisierung erfahren haben und der mich – uns – selbst sehr verändert hat, möchte ich mit Ihnen heute schlicht teilen.

Vorausschicken möchte ich: So tiefgreifend fortgeschritten habe ich den Säkularisierungsprozess noch nirgends dargestellt gefunden, wie es unserem tatsächlichen Erleben in den Missionen in vielen Teilen Europas entspricht. Gleichzeitig habe ich aber so viel reine Aufnahme des Evangeliums, so viel „Heimweh nach Gott“ in diesem scheinbar (oder tatsächlich) so heidnisch gewordenen Europa erfahren. Fast so, als müsste erst durch die Säkularisierung vieles frei gelegt werden, damit man direkter an das reine Wasser des Evangeliums kommen kann.

Ich weiß nicht, ob man diese Säkularisierung so segensreich wie eine „Kenosis“ des Herrn, eine „Herablassung“, beschreiben darf, wie es der italienische Philosoph Gianni Vattimo [1] bereits in den 90iger Jahren getan hat. Aber etwas Entscheidendes ist da in jedem Fall für die Neuevangelisierung: Es geht um die neue Entdeckung der „Herablassung“ des Herrn, und um die in IHM „Herabgelassenen“, die Erniedrigten, die Armen. Es geht letztlich darum, ob den „Armen“ die Frohbotschaft verkündet wird. Aber wer sind die Armen bei uns in Europa? Immer deutlicher scheint mir zu sein, was die selige Mutter Teresa wiederholt gesagt hat, dass in der Art der zunehmenden Gottesleugnung Europas paradoxerweise der eigentliche Hunger nach Gott selbst zum Vorschein kommt [2]: die eigentliche und größere Armut in Europa ist der dramatische Mangel an Angenommensein und Geliebtsein, der Mangel an Erfahrung der Güte Gottes.

Wie kann man darüber theologisch redlich reden? - eine wahre Herausforderung. Ich hoffe, Sie empfinden es nicht als taktlos, wenn ich die terminologischen Fragestellungen zur Neuevangelisierung beiseitelasse, weil sie mir überholt scheinen: ob „Erst-Evangelisierung“, „Neu-Evangelisierung“, „Mission ad Gentes“ u. v. m. - sie greifen in der Realität so sehr ineinander, sodass ich nur von einer ganz veränderten Praxis Rechenschaft geben kann.

Schattenlinien überspringen

Zunächst zwei Momentaufnahmen, zwei Schlüssel zur Neuevangelisation von heute, die mich/uns zu wesentlichen Lernschritten führten. Die erste Momentaufnahme: Der österreichische Schriftsteller Peter Handke hat vor kurzem ein bemerkenswertes Interview gegeben. In seiner Schulzeit besuchte er das Kärntner Knabenseminar, und nicht nur deswegen hat er uns in den letzten Jahrzehnten mit harscher Kirchenkritik nicht verschont. Auf die Frage, ob er denn nun ein „religiöser“ Autor wäre, antwortet er heute – nicht ganz unerwartet: „Darauf gebe ich keine Antwort!“ Auf wiederholte Nachfrage lässt sich Handke schließlich zu der Aussage hinreißen: „… Wenn mir jemand sagt, er sei religiös, geht mir das auf die Nerven - wenn er nicht erzählt, was das ist. Das Erzählen ist das Entscheidende“. Für Handke ist Erzählen auch ein „Sich offenbaren“. Und dann beginnt Handke überraschend selbst zu erzählen: „Wenn ich an der heiligen Messe teilnehme, ist das für mich ein Reinigungsmoment sondergleichen. Wenn ich die Worte der Heiligen Schrift höre, die Lesung, die Apostelgeschichte, die Evangelien, die Wandlung erlebe, die Kommunion und den Segen am Schluss ‚Gehet hin in Frieden!’…. die Eucharistie ist für mich spannender, die Tränen, die Freude, die man dabei empfindet… Ich weiß, ich habe, wenn ich das sage, eine Schattenlinie übersprungen, aber dazu stehe ich.“ [3] Und in einem Fernsehinterview spricht Handke (der „Meister der Dämmerung“) tief ergriffen von der Freude, die eine „Pflicht“ sei. Offensichtlich kostete ihn das viel. Diese Ergriffen- und Betroffenheit im Erzählen über seinen Weg mit Jesus Christus, die uns ganz unerwartet schlicht, ehrlich, irgendwie gebrochen und unprätentiös entgegenkommt – ich erlaube mir zu sagen, auch „arm“ -, markiert das Überspringen einer Schattenlinie. Zunächst die Schattenlinie eines Schriftstellers, aber wie wir im weiteren sehen werden, ist gerade so ein demütiges, „gebrochenes“ ehrliches und gleichzeitig leidenschaftliches Zeugnis auch für weite Teile unser kirchlichen Lebens eine Schattenlinie, die es zu überspringen gilt.

Dieses unscheinbar Persönliche, geradezu „Kleine“, birgt eine entscheidende Provokation für die erwachsene, reife und ältere Kirche in sich – es geht um den „Geist der Kindschaft“. Ohne den es nach der Schrift kein Eingehen in das Himmelreich gibt. Ich möchte Ihnen zeigen, dass die Menschen unserer aufgeklärten Welt genau nach solchen einfachen, geradezu „arm-seligen“ Offenbarungen (ohne Übertreibung) „dürsten“ und „hungern“.

Ich weiß nicht, ob ich nun auch eine Schattenlinie überspringe,

wenn ich Ihnen mit meiner zweiten Momentaufnahme eine sehr persönliche Erfahrung anvertraue. Ich hatte vor 22 Jahren eine junge Biologiestudentin in Graz kennengelernt und fühlte mich von ihr angezogen. Aber Achtung, diese junge Frau wäre zu „gefährlich“ für mich, meinte ihre – zum Unterschied von ihr - gläubige Freundin. Die Verehrte war ein Kind dieser säkularisierten „Welt“, zwar gerade noch getauft und gefirmt, aber sonst hatte sie so gar nichts mit Kirche und Glaube zu tun. Also so richtig „weltlich“ - auch im Sinne der moralischen Verwerflichkeit. Es passte ins Bild, dass sie zudem weder heiraten noch Kinder wollte. Ich konnte mir damals – und das ist für unsere Überlegungen jetzt spannend - trotz meines missionarischen Eifers in umfangreicher Jugendarbeit beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese so „weltliche“ junge Dame je gläubig werden könnte. Und ich habe es (und das ist nicht unwichtig) auch Gott nicht zugetraut. Eine Bekehrung oder „Neu – Evangelisierung“ dieser jungen Frau lag außerhalb meiner Vorstellungskraft. Wie bei so vielen anderen (d. h. bei den meisten Menschen) in Wahrheit auch.

Bis sich mir eines Morgens nach einer schweren Nacht eine Klarheit einstellte, die sich wie eine Art innere Stimme meldete: „Wenn sie sich (Carola) tatsächlich bekehren soll, dann musst du dich zuerst bekehren!“ Ich hatte nichts vom Wie und Was verstanden. Ich wusste nur, dass es eine elementare Kehrtwende bei mir brauchte. Es sollte erst viel später in vielen kleinen Schritten deutlich werden, dass ich selbst eine tief greifende Umkehr brauchte. Es betraf die Art meines scheinbar frommen Blicks auf diese so „weltliche“ junge Frau, - und eigentlich auf die Welt überhaupt! In Wahrheit war es ein herablassender Blick. Ich war mir kaum bewusst, welch ein armer Kerl und wie bedürftig ich selbst war, und wie viel Selbstgerechtigkeit und Heidentum sich in mir ausgebreitet hatte. Ich ahnte nicht, wie unverdient ich von Seinem Erbarmen lebte. Das ließ mich auf die junge Dame herab-schauen, so wie ich auch auf die Menschen dieser Welt selbstsicher herabgeschaut habe. Ich kann heute sagen, dass ich selbst dadurch einen dunklen Schatten auf sie geworfen und somit auch die Linie gezogen habe, die zu überspringen meine eigene tiefgreifende Bekehrung bedurft hat.

Um es kurz zu machen: Heute ist diese junge Frau Mutter von sechs Kindern und hat sich mit ihrem Ehemann ganz der Mission geweiht. Der glückliche Ehemann darf ich sein. Inzwischen ist etwas passiert, aber etwas ganz anderes, als ich damals zu denken gewagt hätte. Ich durfte zuschauen, wie durch viel „Kompassion“ meiner Freunde diese vermeintlich so „gefährliche“ Frau wiederholt mit selten schöner Reinheit die Erbarmungen des Herrn aufgenommen hat. Ich wurde beschämt - ich, der ich mich als Evangelisierer verstand und seit Kindheit im katholischen Glauben erzogen wurde. Für mich, auf alle Fälle, war Selbstevangelisierung an der Reihe, ein tatsächlicher „Herabstieg“, das Eingestehen meines tiefen Angewiesenseins auf Sein Erbarmen und dann die Erfahrung echter Freude, die ich nicht mehr missen möchte.

Ich habe es gewagt, Ihnen diese Erzählung anzuvertrauen, weil mir im Laufe der Jahre bewusst geworden ist, dass ich gerade diese meine Schattenlinie, diesen (oft auch versteckt) ver-urteilenden Blick auf die Welt, mit zu vielen in der Kirche teilte. Und ich erlebte diesen Blick sogar als Grundhindernis – wie einen dunkler werdenden Schatten - auch in der kirchlichen Verkündigungsarbeit.

Also, diese zwei Momentaufnahmen stellen Fragen:

zum Einen: was „erzählen“, d. h. was „offenbaren“ wir den Menschen heute? Gibt es nicht ein berechtigtes „Genervt-sein“ über die Kirche in unserer europäischen Gesellschaft (die über Handkes Gereiztheit weit hinausgeht)? Darüber, dass man uns nicht versteht - vielleicht auch, weil der Kirche doch eine Art von Kompliziertheit der Verkündigung anlastet, der auch ein inneres Vergessen der großen Barmherzigkeit des Herrn innewohnt. Was macht es so schwer, demütig und zugleich leidenschaftlich Zeugnis vom Retter zu geben?

Und zum anderen: Warum werfen wir weiterhin so viele dunkle Schatten durch unsere herablassenden Urteile (die wir uns selbst so schwer eingestehen) in Reden, Predigten oder Internetforen auf diese Welt von heute? Und vor allem: Was heißt heute das „Herabsteigen“, die „Kenosis“, - so wie es ja dem Wesen der wahren Mission des Vaters durch den Sohn entspricht? „Er wurde ein Sklave, um bei den Menschen zu sein…“


Dazu nun der eigentliche Inhalt meiner Ausführungen: vier Lernschritte oder Lernprozesse, in die wir durch unsere Evangelisationsaktivitäten hineingenommen wurden. (4 Schritte nennen) Ich bin mir bewusst, dass meine Erfahrungen in kein Generalrezept münden. Mir scheint sogar das Überschauenwollen des Ganzen oft ein Hindernis dafür zu sein, die ersten Schritte der Praxis zu setzen, weil diese immer nur unvollkommen und gebrochen sein können. Aber mit dem konkreten Tun steht und fällt die Neuevangelisierung. Ich wage also, diese unvollkommenen Schritte mit Ihnen zu teilen.

1. Lernprozess: dass die Gastfreundschaft des Herrn alles umdreht

Als wir Anfang der 90-er Jahre mit den Evangelisationsschulen der Gemeinschaft Emmanuel neuen Formen von Gemeindemissionen im deutschsprachigen Raum begonnen hatten, ging es einfach darum, die Gastfreundschaft Jesu in der Pfarre konkret werden zu lassen. Es galt aufzubrechen und Menschen einzuladen „da draußen“ - zu einer Begegnung mit Jesus Christus, dem eigentlichen Gastgeber. Es sollte keine klassische Prediger-Mission für die Gemeinde sein, vielmehr versuchten wir, uns in vielen kleinen Schritten mit der aktiven Pfarrgemeinde selbst auf den Weg der Mission zu machen. Die schlichte Frage beim ersten Treffen der einjährigen Vorbereitungszeit solcher Gemeindemissionen lautete: Wo würde Jesus heute hingehen? Wo und von wem würde er sich einladen lassen, oder sich selbst einladen? Ganz konkret – mit Namens- und Ortsbenennungen in der Gemeinde.

Dem muss hinzugefügt werden, dass für uns als „missions-motivierende“ Gemeinschaft natürlich von Beginn unserer Evangelisationsaktivitäten an die Erfahrung der Ausgießung des Heiligen Geistes stand, die uns zu solch erneuten „Aufbrüchen“ drängte. Aber was hieß das für eine „gewöhnliche“ Pfarre? Interessanterweise brachten die Aufbruchsschritte der Evangelisierung, die wir mit der Gemeinde erlebten und die ich hier hervorheben möchte, uns selbst noch zu weiteren Bekehrungsschritten.

Zunächst zu den Gemeinden: Für nicht wenige Gemeindemitglieder war es wie ein heilsamer Schock (aber auch Faszination), nun tatsächlich selbst „anstelle“ Jesu aufzubrechen und das gewohnte, oft zu geschlossene, kirchliche Milieu zu verlassen. Aber bei jeder Gemeindemission der letzten zwei Jahrzehnte stellte sich eine unerwartet wundersame und freudige Wende ein. Die Frauen und Männer der Gemeinde wagten sich auf die Straßen, Plätze in die Wohnungen, die Kaffees und Bars des Ortes. Sie fühlten sich wahrlich arm. Plötzlich waren sie in besonderer Weise auf die Hilfe des Herrn selbst und seinen verwandelnden Geist angewiesen. Glaubensakte wurden herausgefordert. So bemühte man sich, ein oft kleines und stotterndes Glaubenszeugnis weiter zu erzählen. Und es stellte sich eine selten starke innere Freude und Dankbarkeit bei den Gemeindemitgliedern ein über so viel Aufnahmebereitschaft, die sie nie erwartet hätten, - wenn auch Ablehnung und Aggression nicht ausblieben. Eines überraschte nicht minder, dass gerade Zeugnisse von Menschen „so wie du und ich“ als besonders glaubwürdig angenommen wurden.

Wir haben gelernt, dass es für die Gemeinde wichtig ist, den Schritt „nach draußen“ zu machen, um die Ausgießung des Geistes zu erfahren.

Aber dann – folgte für uns Evangelisierer noch ein unerwarteter nächster Aufbruch. Die unzähligen Begegnungen kehrten vieles für uns Missionare um und stellten so manche unserer Vorstellungen auf den Kopf. Wenn man so oft mit sog. Fremden „face to face“ spricht, wird man von den vielen Wunden und Sehnsüchten der Menschen tatsächlich berührt. Das kann destabilisieren und das eine oder andere Zeugnis verstummen lassen. Es war von uns ein feiner aber umso wichtigere Lernprozess gefordert, den ich am liebsten mit den Worten von Karl Kraus ausdrücken möchte: „Hab´ ich dein Ohr nur, find´ ich schon mein Wort!“ Wir mussten neu lernen, wahrhaft zuzuhören, damit die Menschen von heute überhaupt Ihre Worte, Ihre Erzählung finden konnten. Wir mussten eingestehen, dass wir in der Verkündigung oft zu schnell mit unseren eigenen Worten waren. Wir lernten, durch das Hören zu Verkünden!

Das hat unseren Blick tatsächlich – Schritt für Schritt - verändert. Die Rollen wurden neu verteilt. Wir wurden immer öfter von Gastgebern zu Gästen. Wir wurden gleichsam hineingezogen, Jesu Mitleidens mit denen zu teilen, die müde und erschöpft sind, weil sie den Hirten nicht kennen [4]. Es war und ist auch ein „Berührt werden“ mit den Leiden der vielfältigen Müdigkeit der Menschen heute. Von der inneren psychischen Müdigkeit wird ja öfters gesprochen, aber auch von einer Müdigkeit des Denkens und vieles mehr. Weil es eben müde macht, wenn das versteckte „Heimweh“ nach dem Hirten noch kein sichtbares Zuhause erblicken kann.

Wenn wir als Evangelisierer selber zum „Gast“ werden, wissen wir uns immer weniger als „Besitzende“, als vielmehr als unverdient „Beschenkte“ dieser Wahrheit der Heimkehr. Das veränderte den Weg/die Art der Evangelisierung radikal, vor allem unser Herz. So spürten wir zunehmend die Herausforderung, dass das Zeugnis, ob von Laien oder Priestern, viel demütiger und gleichzeitig leidenschaftlicher sein darf.

Wir mussten lernen, tatsächlich wie der Herr, „herab zu steigen“, uns klein machen und uns stören, womöglich verletzen und sogar schmutzig machen zu lassen. Uns wurde immer klarer, das geht nicht in Distanz. Und es kostet etwas!

Es braucht die direkte Begegnung und dann ein vorab geschenktes Vertrauen. Ich muss also zu einer Begegnung aufbrechen, eine Entscheidung treffen; d. h. wie Petrus - aus dem Boot aussteigen und auf unsicherem Wasser gehen. Das Bild ist real, denn rein menschlich tragen uns die Gespräche bei den Hausbesuchen, in den Bars, auf dem Marktplatz, an den Universitäten usw. nicht durch, wenn wir nicht immer wieder die Erfahrung machen würden, dass uns in diesen Begegnungen Christus selbst geheimnisvoll entgegen kommt. Der zweite Aufbruch ist also, uns von Christus selbst ansprechen zu lassen, der uns Evangelisierern in den „Armen“, den Bedürftigen, begegnet.

Wer sind nun die Armen? Erst kürzlich hatten wir eine Gemeindemission in den sog. Problembezirken in Wien mit dem größten Ausländeranteil usw. Was glauben Sie, wer uns am stärksten willkommen geheißen und wirklich liebevoll aufgenommen hat? Die muslimischen Familien und die Prostituierten! Hier kamen uns die Erfahrungen der seligen Mutter Teresa so nahe, die sie unter ganz anderen Umständen in anderen Erdteilen mit der so unbeschreiblichen sozialen Armut erlebte. So wie sie das „große Dürsten Gottes nach dem Menschen“ zeigen wollte, versuchten wir es - wie der Gründer der Gemeinschaft, Pierre Goursat - durch das konkrete Aufnehmen der Bedürftigen, vom einfachen Arbeiter bis zum Intellektuellen und Fernsehmoderator. Zu denen, die Mutter Teresa als die Ärmsten in Europa bezeichnet, die sich nicht geliebt und willkommen fühlen, die Christus nicht kennen. Der distanzierte Blick auf Weltanschauung, moralische Einstellung oder politische Richtung des einzelnen Menschen ergibt eben nicht sein eigentliches Bild. Die Neuevangelisierung braucht zuerst die echte BERÜHRUNG, und in dieser Berührung die Erfahrung und das Bezeugen des unbedingten JA Gottes zum Menschen. Christus ist dieses JA!

Wir hatten uns im Kontext und in der Folge der Wiener Stadtmission 2003 Schritt für Schritt auch ins kulturelle, politische und gesellschaftliche Wien hineingewagt; oberflächlich betrachtet in eine zunehmend heidnische Welt. Wir haben eingeladen und uns einladen lassen – zu Begegnungen, zu Gesprächen, in Bars, an die Universität, ins Parlament, in zahlreiche Kaffees. Ich erinnere noch an eines der zahlreichen Nachtgespräche bis in die Morgenstunden, einmal sogar mit Künstlern im Audienzzimmer des Kardinals – unter Ausschluss aller Öffentlichkeit, gemütlich „umgestaltet“, Kaffeehaus- oder Wohnzimmeratmosphäre. Am Ende des sehr persönlichen Austausches kam ein älterer Schauspieler zu mir, um sich zu bedanken, weil er fast 40 Jahre auf eine Begegnung dieser Art gewartet hätte.

Soviel zum ersten Lernprozess: Die Gastfreundschaft braucht Begegnung, Berührung, und dass wir als Einladende selbst zu Gästen werden.

2. Lernprozess: dass die Anbetung in die Welt drängt

Ich sagte schon, dass wir in den Gemeindemissionen auszogen, um zu einer Begegnung mit Jesus Christus einzuladen. Zentral war dabei, dass wir immer auch in die Kirche eingeladen haben. Wir haben den Menschen von Seiner realen Gegenwart erzählt - auch von dieser einfachen Gegenwart im Leib Christi. Die Mitte allen Tuns bei Gemeindemissionen war die Eucharistie, und tagsüber waren die Kirchentüren weit geöffnet für die eucharistische Anbetung.

Dies betrifft nun eine der Entwicklungen seit dem 2. Vatikanischen Konzil, die meines Erachtens besondere Beachtung verdient. Für uns und sehr viele andere evangelisatorische, missionarische Aufbrüche und Initiativen steht die eucharistische Gegenwart des Herrn, die eucharistische Anbetung, im Zentrum der missionarischen Aktivitäten. Die Anbetung, die viele Gemeinden schon als veraltete Frömmigkeitsform abgetan hatten, entwickelte nun eine erstaunliche missionarische Kraft, wurde entscheidender Sammelpunkt der Missionen und zeigte gerade für junge Menschen eine außerordentliche Anziehungskraft.

In der Anbetung wird dem Gastgeber, dem Herrn selbst, so der Vortritt gegeben. Wir treten selber zurück und lassen Ihn in das Zentrum. Von IHM soll alles ausgehen. Das verweilende, anbetende und lobpreisende Gebet vor dem eucharistischen Brot, offenbarte uns eine besondere Schönheit. Und erstaunlicherweise haben sich gerade während unserer Missionen um die Anbetung neue „moderne“ Gottesdienstformen entwickelt, die besonders auch Fernstehende anziehen. Zu einer der besonders schönen Früchte gehören die sog. „Stunden oder Abende der Barmherzigkeit“, die bereits an vielen Orten praktiziert werden.

Aber selbst hier spürten wir die Gefahr, in der Selbstbetrachtung stecken zu bleiben, wenn uns diese Anbetung nicht gleichzeitig zu den Menschen hinzieht. Wir wurden mehr und mehr dazu hingeführt, Christus weiter anzubeten in den Menschen, denen wir in der Mission begegneten. Christus in Menschen anbeten - irgendwie veränderte das alles. Selbst in jenen mit der größten Ablehnung, oder Hass u. a., war es plötzlich möglich, Christus den Gekreuzigten, Christus den Verlassenen, anzubeten. Genauso wie Mutter Teresa es sagte, lieben wir ja deswegen nicht durch die Menschen hindurch, sondern erst die wahre Person im Gegenüber. Es offenbart sich jemand zunehmend in seiner/ihrer Eigentlichkeit.

Das verändert den Blick auf die Welt radikal. Schüler/innen, Studierende, Geschiedene, Verheiratete, Obdachlose, aber auch Politiker, Schauspieler, Journalisten, mit denen wir unser Zeit verbrachten, erschienen uns mit den Monaten, mit den Jahren, geheimnisvoll in einem anderen Licht. Wir bringen sie und ihre Anliegen, Freuden und Verirrungen in unserem Herzen zur Anbetung. Und so begannen sie auch „unser Herz zu bewohnen“! Wir lernten und lernen die Menschen stellvertretend in Anbetung und Lobpreis vor den Herrn zu bringen, so dass sie immer mehr unser Herz bewohnen!!

Unglaublich, wie sehr genau das die Methodik der Evangelisierung verändern kann. Es führt uns direkt zum Bild des Tempels mit dem Vorhof und dem Heiligtum, das Sie uns, Heiliger Vater, zu Weihnachten 2009 in einer Rede geschenkt haben. In einer Zeit, in der die Minderheitensituation der Christen in Europa immer eklatanter wird, brauchen wir solche „Heiligtümer“ der Anbetung und des Lobpreises der Gegenwart des Herrn! Menschen wie Räume, aber offene; weil der Vorhof da in Wahrheit nicht mehr vom Tempel getrennt ist. Weil Tempel und Vorhof durch Christi „Herablassung“, durch sein Opfer, durchlässig gemacht wurde. Dialog, Anbetung und Evangelisierung greifen hier ineinander.

Wir dürfen wirklich erfahren, dass durch diese anbetende Mission und gelebte Kompassion „Menschen an uns hängen können, ohne ihn zu kennen“. [5]

Heiliger Vater, ich weiß gar nicht, wie ich es recht ausdrücken soll, aber als wir all diese Worte vom „Vorhof der Völker“ von Ihnen hörten, erfüllte uns das mit einer so großen Freude, sodass uns zuinnerst bewusst war: DAS ist es jetzt! Wie eine Art neue Geistausgießung für die Kirche. Ja, wir können zutiefst bestätigen, wie sehr die „Agnostiker“ unserer Tage das Große und Reine ersehnen. Ja, es kommt auf unsere Lebensweise, unsere innere Haltung an, „dass Menschen so ihr Heimweh akzeptieren können“.[6] Wie oft durften wir erleben, wie in Menschen durch die Erfahrung eines tiefen inneren Angenommenseins, einer Achtung ihrer Selbst, der Hunger nach Gott frei gelegt wurde.

Nur ein kleines Beispiel:

In unsere Akademie, in der es eine Kapelle mit täglicher Anbetung gibt, bieten wir neben der vielfältigen Missionsausbildung für die Diözese z. B. auch Kurse für Medien- und Europa-Fragen an, die vor allem von vielen jungen Menschen aller möglichen Weltanschauungen besucht werden. Wir gehen so einen Weg mit den jungen Leuten, teilen ihre Interessen wie auch die intellektuelle Auseinandersetzung in wichtigen gesellschaftlichen Fragen. Und wir bringen unseren christlichen Glauben im Dialog ein. Eine Studentin fragte mich nach einem Jahr Medienkurs, ob sie mir eine „intime“ Frage bezüglich meines Glaubens stellen dürfte. Das ganze Jahr über brachte sie nämlich wiederholt zum Ausdruck, dass sie ungläubig wäre, sich aber irrsinnig wohl im Kurs wie im Haus fühle. Sie wollte nun wissen, ob ich denn zum Schluss für sie gebetet hätte. Ich zögerte anfangs mit der Antwort, weil sie ja nicht bekehrt werden wollte; wer will das schon „Objekt der Mission“ sein?

Als ich bejahte, fragte sie, ob ich denn schon seit Anfang des Kurses, seit einem Jahr, für sie betete, und als ich dann wieder mit Ja antwortete, sagte sie bewegt: „Ganz ehrlich, darauf hatte ich gehofft!“

Ich könnte nun mit unzähligen solcher Beispiele dieses „Heimwehs“ fortfahren. Wir initiieren Dialogveranstaltungen an den verschiedensten „säkularen“ Orten in Wien, aber es sind natürlich „missionarische“ Dialoge. Unsere agnostischen oder atheistischen Freunde verstehen zum Teil besser als Kircheninsider, dass der Dialog nicht von der inneren Mission jedes Dialogpartners zu trennen ist. Wir sind dabei zu lernen, was es heißt, transparenter und ehrlicher zu sein. Vor allem aber im Geist der Armut zu leben, um uns gegenseitig beschenken zu lassen. Ganz ähnlich, wie schon Platon den Dialog verstand, dass nämlich durch wachsendes „sym-pathein“ – d. h. Compassion – durch „häufige familiäre Unterredung … plötzlich jene Idee in der Seele entspringt, wie aus einem Feuerfunken das angezündete Licht, um sich dann selber weiter Bahn zu brechen“ [7]. Aber das lebt zutiefst aus dem Glauben, dass der Feuerfunken der Geist Gottes ist, auf dessen Wirken wir vertrauen, und der weht wo er will. Dies führt uns nicht in einen Relativismus. Es ersetzt auch nicht die Katechese, sondern ermöglicht sie so erst. Und es eröffnet erst den Weg zu den Sakramenten, die für uns immer deutlicher zu den inneren pulsierenden Zentren der Evangelisierung werden.

Nur dass hier kein Missverständnis aufkommt; all die tragischen Verirrungen und Versuchungen des Bösen in unserer Gesellschaft werden bei dieser Art der Evangeliserung nicht ausgeblendet oder gar weichgespült. Gerade die Konzentration auf die Compassion in der Evangelisation sensibilisiert für die Unwahrheit und die zerstörerischen Phänomene, legt aber wohl ein stärkeres Gewicht auf das Durchleiden dieser Dimension.

Uns kommt Europa so tief verwundet entgegen, oft auch so innerlich vereinsamt, sodass uns das Wort Jesu zu den Jüngern - im Blick auf die Sünderin – als einen dringlicheren Lernprozess für unsere Situation zu sein: „Wem aber nur wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe“ (Lk 7, 47b)

3. Lernprozess: dass wir in Gemeinschaft evangelisieren

Das bisher Ausgeführte bringt uns zu einem Missionsverständnis, so wie wir es auch bei Thomas von Aquin auf den Punkt gebracht finden: Die ganze Mission Jesu zeige sich darin, dass Gott mit seinem Geschöpf „eine Freundschaft aufbauen“ will – „fundari amicitiam“ [8]. Auch untereinander, als missionarische Gemeinschaft, durften wir nach innen hin eine geistliche und menschliche Freundschaft untereinander erleben und aufbauen. Aber diese musste immer mehr geöffnet werden, damit wir diese Freundschaft auch anderen in dieser Welt anbieten können und sie daran teil haben lassen.

Es ist interessant zu beobachten, dass zum Einen gerade die Großevents wie die Weltjungendtage oder auch unsere Großstadtmissionen & Internationalen Kongresse der Neuevangelisation immer außerordentliche Momente der Sammlung und Glaubensstärkung waren. Aber andererseits können all diese Ereignisse erst dann auf Dauer besondere Früchte bringen, wenn sie in kleinen Gruppen der Freundschaft gelebt werden; sowohl bei den Großveranstaltungen selbst, als auch auf dem weiteren Weg der Evangelisierung. Es zeigt sich heute immer deutlicher, dass wir alle dieser einfachen Nahrung der Liebe bedürfen, d. h. der konkreten Geschwisterlichkeit, der Freundschaft untereinander und mit dem Herrn. Wir brauchen diese kleinen Zellen, diese kleinen christlichen Gemeinschaften, in denen gebetet und das Wort Gottes ausgetauscht und in die konkrete Welt hinein übersetzt wird. Es sind Gebets- und Erzählgemeinschaften. Keine Kuschel-Nischen des Rückzugs, sondern Zellen, die mitten in der Welt eingepflanzt sind. Da sind Menschen, die in ihrer Arbeit und im vielfältigen Netzwerk von Familie und Freunden stehen und so eine neue „Berührbarkeit“ der Kirche mit der Gesellschaft leben. Genau das könnte auch eine neue „Stunde der Laien“ von heute sein.

Wir Jüngeren - vor allem Laien - mussten allerdings schmerzlich erfahren, dass schon im Laufe der Großstadtmissionen die Diözesanleitungen der Städte mit ihren (allzu) festen Strukturen zunehmend die gesamte Verantwortung übernommen haben und die anfänglich jugendliche Dynamik, die stark von jungen Laien ausging, zurückgedrängt wurde. Die Diözesen kamen zunehmend unter Erfolgsdruck - so manches schien ihnen zu riskant oder zu naiv, - und sie setzten dann lieber auf Bewährtes und auf herausragend demonstrative Aktionen. Die Tendenz zur Selbstdarstellung der Kirche war groß. Das schaffte eigentlich wieder neue Distanz in der Mission, auch wenn es nach außen hin noch immer Eindruck machen konnte – aber wohl nur mehr im binnenkirchlichen Raum.

Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich mit Ihnen eine weitere Sorge teilen muss: wie stark sich eine Welle der Klerikalisierung in den verschiedensten Formen ausgebreitet hat. So viele Laien, die Motoren der Neuevangelisierung Europas waren und sich ganz im Vertrauen der kirchlichen Leitung unterstellt hatten, wurden und werden zurückgedrängt, manche sogar zum Schweigen gebracht. Es erscheint mir geradezu eine Gewissenspflicht, in diesem Kontext all diese versteckten und offenen Lähmungserscheinungen in den neuen Bewegungen, aber auch in Gemeinden und Diözesen nicht zu verschweigen.

Es kann sein, dass es eine Reaktion auf die übermäßige Klerikalisierung der Laien in der Zeit nach dem Konzil ist. Wie auch immer, hier ist das Wort von Dietrich Bonhoeffer erneut treffend und bedrängend: „…jeder Versuch, ihr (der Kirche) vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein" [9]. Die Gefahr scheint mir groß, wenn das Amt mit seiner Autorität erneut in den Mittelpunkt gestellt wird, dass der entscheidende Ruf der getauften Christen zur Heiligkeit verdrängt bzw. nachgeordnet wird. Das aber verstellt das Angesicht des dienenden Christus. In den vielen neuen Gemeinschaften lernten wir, was es heißt, dass Laien und Kleriker ein stärker entwickeltes Selbstverständnis in gegenseitiger Wertschätzung brauchen.

Aber noch viel entscheidender war und ist die gemeinsame tiefe Freude am Priestertum Christi. Miteinander Christ zu sein im gemeinsamen Priestertum der Getauften („… mit euch bin ich Christ, für euch Bischof“)! Lumen gemtium 10 verdient hier neuerlich besonderer Beachtung, was die Wesens-Frage betrifft [10]. Es geht um das, was wir uns selbst nicht geben können – und alle „nur“ empfangen können. Gleichzeitig hat uns das Beispiel der Pfarr- und Stadtmissionen aber auch die Wichtigkeit vor Augen geführt, dass die „Christen in der Welt“ nicht nur sich selbst, sondern auch die „Neuhinzugewonnenn“ zu den Sakramenten, zur Eucharistie und damit zu den Priestern führen.

Aber all das braucht demütige Geschwisterlichkeit - versammelt um den Herrn. Wir spürten die Notwendigkeit dieses Lernprozesses an uns selbst zuerst: Ein Zuhören, das den anderen höher achtet als sich selbst; damit wir auch gegenseitig empfangen können, was uns der Herr geschenkt hat. Und das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Wir müssen dies also aufs Neue in der Schule des Herrn lernen und einüben. In der Erzdiözese Wien sind wir nach drei großen Diözesanversammlungen mit 1500 Delegierten im vergangenen Jahr zum Schluss gekommen, dass wir bei der Mission mit unseren Gemeinden und den notwendigen Umstrukturierungen nur vorankommen werden, wenn wir „Jüngerschaftsschulen“ verschiedenster Art aufbauen [11]. Glaubensschulen und Missionsschulen. D. h. tatsächlich aufbauen und nicht den Niedergang (geschönt) verwalten. Kleine christliche Gemeinschaften aufbauen und gründen, die auch von den Laien getragen werden können und neue missionarische Kraft entwickeln. Ein langer Weg, aber bekanntlich erzieht uns der Herr mit langmütiger Geduld. Natürlich stehen wir hier noch vor einer Reihe von gemeindetheologischen Fragen, aber für eines möchte ich zumindest plädieren: dass sich in Zukunft mehrere solche kleine christlichen Gemeinschaften zu einer größeren Eucharistiegemeinschaft am Sonntag treffen, ist für die kirchliche Einheit im auferstandenen Herrn, für die gegenseitige Stärkung und so vieles mehr geradezu eine Notwendigkeit.

4. Lernprozess: dass Demütigungen und Verwundungen der Stoff der Neuevanglisierung werden

Über Demütigungen und Verwundungen der Kirche könnte heute viel gesagt werden. Die vielen Begegnungen bei den Missionen haben uns aufmerksamer gemacht, dass der Umgang damit zu den entscheidenden Fragen der Evangelisation in Europa gehört. Schon das Ausmaß an Demütigungen, die wir uns selbst als Kirche durch unser Versagen und unsere Sünden zugezogen haben, scheinen wir nur sehr schwer akzeptieren zu wollen. Die Frage echter Reue, der Verzicht auf vorschneller Selbstverteidigung, das Loslassen herrschaftlicher Gebärden, die dem Evangelium nicht angemessen sind, wurden für uns zu einer echten Herausforderung. Aber es gibt noch eine andere Form der Demütigung, mit der wir in den Gemeinden viel zu tun hatten: dieses stete kleiner werden – und die Mühen des pfarrlichen Alltags. Das durften wir auch psychologisch nicht unterschätzen.

Wir werden in Europa zum kleinen Rest. Auch wenn es beeindruckende Ausnahmen gibt, auf die wir gerne schielen, so müssen wir doch akzeptieren lernen, in weiten Teilen eine vergreisende Kirche in Europa zu sein (so eine Aussage nach dem wunderbaren Weltjugendtag). Ich gestehe, es war auch schwer, selbst in einer „aufbrechenden“ Bewegung der Kirche zu sein und den nötigen Realismus zu bewahren. Die Kirche wird sich nicht, wie wir es wünschten, zur einer neuen sichtbaren Größe und weltlichem Rang emporspielen. Und wieder, mitten in einer weiteren Desillusionierung - zeigte der Herr genau darin seine neuen Zeichen und eröffnete mir – und uns - eine neue Welt mit IHM!

Ich mute Ihnen dazu noch ein kleines Lern(Lehr)bespiel zu, das ich Anfang der 90-iger Jahre in einer Schule erleben durfte, in der ich einige Jahre unterrichtet hatte. Ich sollte dort für den „letzten Rest“ noch Religionsunterricht halten. Man hatte nämlich ein spezielles Gymnasium im südlichen Österreich aufgebaut, das ganz von Kirche und alten Traditionen gereinigt werden sollte. Man hatte alle Kreuze aus den Klassenzimmern entfernt, es gab keine religiöse Schulveranstaltungen mehr usw.; mit viel Energie erkämpften sich Schüler, Lehrer und Eltern über den Weg der Basisdemokratie ihre eigenen Wege zum Lebensglück. Nicht wenige Äußerungen und Umgangsformen der Schüler und Eltern verletzten mich schon beim Einstieg in die Schule. Ich wollte so schnell wie möglich wieder von dort weg. In meiner echten Not, irgendetwas zu finden, womit das Unterrichten noch einen Sinn hätte, entschied ich mich schlicht – die Schüler gern zu haben. Wie macht man das unter diesen Umständen? Es war ein echter Kampf. Ich hatte in dieser Situation nichts anderes anzubieten, als Ihnen Anteil zu geben an meinem Leben, Freundschaft aufzubauen … und zu erzählen von Menschen, von ihren Lebensgeschichten, wie sie Jesus kennen gelernt haben. Z. B. von den Heiligen. Als ich einmal über mehrere Stunden bei den Teenagern über den Pfarrer von Ars erzählte, meldete sich ein Junge mit der Bitte um eine Abstimmung (Basisdemokratie!): es ging um die Forderung, auch zur Beichte gehen zu dürfen. Fast die ganze Klasse stimmte dafür. Ich zögerte und wollte keine Probleme mit den Eltern. Schließlich haben sich dieser Abstimmung noch weitere Klassen angeschlossen. Sie können sich nicht vorstellen, welch eine Vorfreude ich in den Augen dieser Teenager sehen durfte. Das hatte ich noch in keiner katholischen Schule gesehen. Und wenn ich jetzt an die Freude denke, die ich bei ihnen nach der Beichte erleben durfte, kann ich nur schwer meine innere Erregung zurück halten. Getaufte und Ungetaufte, auf alle Fälle keine Kirchgänger, haben die Beichte basisdemokratisch von einem ängstlichen und armseligen Religionslehrer eingefordert.

All den ernsthaften und wichtigen Diskussionen über den Niedergang des christlichen Europas möchte ich nur unsere Erfahrung hinzufügen: Wenn wir uns nur in aller Armseligkeit den Menschen von heute tatsächlich aussetzen und um Seinen Geist bitten, dann werden wir diesen unendlichen Hunger nach Gott spüren, erleben. Er liegt so unmittelbar vor uns.

Diese jungen Leute haben mich vieles gelehrt. Der Herr war bei ihnen, wirklich zum Greifen nahe. Wir konnten so unverkrampft über und mit Gott sprechen. Dass diese jungen Menschen dann noch eine Abstimmung durchsetzten, mit der sie ein Kreuz im Klassenzimmer anbringen durften, hat mich gelehrt, wo die Propheten von heute sind. Ja, wenn der Herr sagt, wenn wir nicht verkündigen, werden die „Steine schreien“, dann hat der Herr offensichtlich noch Erbarmen mit uns, sodass er die sog. Heiden erwählt hat, sein Wort ganz neu hervorzubringen. Und ich könnte jetzt fortsetzen mit Erzählungen von den vielen „säkularen“ Menschen, die wir bei den bereits angesprochen Dialogen in den kirchenfernen Milieus kennen gelernt haben. Ich sage Ihnen, innerlich „schreien“ sie nach dem Herrn. Ihr Heimweh ist immens. Auch Ihre Wunden.

Und wir? - beschäftigen uns zu sehr mit uns selbst.

So sehr bitte ich den Herrn, dass wir diese Demütigungen unserer Zeit als Eingangstore Seiner Gegenwart annehmen können. Fast scheint mir, als könnte diese Gesellschaft erst durch ein gedemütigtes, armseliges, kleines Volkes hindurch das Licht Seiner Güte erkennen.

Immer tiefer haben sich die letzten Worte vom Apostel Paulus in der Apostelgeschichte in unser Herz geschrieben. Nach der Erkenntnis der inneren Verstockung des eigenen Volkes schließt Paulus mit dem Ausruf: „Darum sollt ihr nun wissen: den Heiden ist dieses Heil Gottes gesandt worden. Und sie werden hören!“ Und ich füge hinzu, wenn wir Ihnen auch zuhören, werden wir mit Überraschung und Freude - durch viele - den Herrn auf neue Weise zu uns sprechen hören. Es wird (ist) eine Freude sein, die uns niemand nehmen kann.

In diesem Kreis, vor solch einem Auditorium, brauche ich keine theologischen Konklusionen anstellen. Das können Sie besser als ich.

Ich kann nur bezeugen und maße mir kein Urteil an, aber ich wüsste heute keinen anderen Weg dazu, als den uns der Herr gelehrt hat und den wir von Maria lernen: hinabsteigen, klein werden, um an Seiner Freude Anteil zu nehmen und diese weiter zu geben.

Ich danke Ihnen für das Geschenk Ihres Zuhörens,

… so dass ich „erzählen“ konnte!

Anmerkungen:
[1] Vgl. Gianni Vattimo, Glauben - Philosophieren, Reclams Universal-Bibliothek, Stuttgart 1997.
[2] Vgl. Mutter Teresa, Komm sei mein Licht. Pattloch, München 2007
[3] ZEIT LITERATUR, Interview von Ulrich Greiner mit Peter Handke, N`8-November 2010, S. 6
[4] Vgl. Mt 9, 36 „Als er die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren müde und erschöpft wie Schafe, die keinen Hirten haben.“
[5] Papst Benedikt XVI. , Weihnachtsansprache vor der Kurie, ZG09122110 - 21. 12. 2009
[6] Ebd.
[7] Platons Siebter Brief. Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar, übersetzt von Rainer Knab, Olms, Hildesheim 2006.
[8] Vgl. Christoph Kardinal Schönborn, Vom geglückten Leben. S. 36. Amalthea, Wien 2009
„Wenn es ein Wort gibt, dass nach meiner Überzeugung die ‚Summa theologia‘ (von Thomas von Aquin) zusammenfasst, so ist es fundari amicitiam.“
[9] Dietrich Bonhoeffer, Taufbrief an sein Patenkind, Mai 1944. Aus Widerstand und ErgebungBriefe und Aufzeichnungen aus der Haft; hrsg. von Eberhard Bethge; Gütersloher Taschenbücher 457; Gütersloher Verlags-Haus, Gütersloh172002
[10] Vgl. II. Vat. Ökum. Konzil, Dogm. Konstitution über die Kirche. Lumen Gentium, Art. 10
[11] Vgl. Hirtenbrief von Christoph Kardinal Schönborn, Wien am Guten-Hirten-Sonntag 2011, Hg. Erzdiözese Wien, erhältlich www.apg2010.at


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Lesermeinungen

  13. Oktober 2011 
 

@Ebenso danke

vielen vielen Dank Ihnen.....vieles ist erst ja schön in Gemeinschaft....mit Ihm und anderen...was der eine nicht kann und weis....kann und weis der andere..und so bleibt man demütig auch...und entwickelt gemeinsam Freude...
also Ewiges vergelts Gott


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 gertrud mc 31. August 2011 
 

Einfach wunderbar, danke! So ein ehrlicher Text voller Demut, Erbarmen und Lernbereitschaft . So hat Jesus selber evangelisiert.


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 Vogelfrei2010 31. August 2011 
 

Das gibt Hoffnung

für die ganze Kirche. Den Vortrag muss man vielleicht mehrmals lesen, um das gesagte wirklich zu verinnerlichen und auch daraus zu lernen. Großartig!!


1
 
 docob 31. August 2011 

@Edith Stein

Deiner Aussage kann ich mich nur anschließen!


1
 
 Edith Stein 31. August 2011 
 

Danke

Dieser Vortrag, noch dazu in diesem Forum, hat mich mich wirklich berührt


1
 
 Gembloux 30. August 2011 
 

Sehr beeindruckend, diese Rede

Liebe kath.net-Redaktion, von solchen Texten könnt ihr gern mehr bringen.


1
 
 maxjosef 30. August 2011 
 

Christus vincit

Ein wunderbarer Vortrag von Herrn Neubauer! Eigentlich wollte ich ja nur kurz mal \"querlesen\", weil mir der Text etwas zu länglich erschien, aber dann konnte ich bis zum letzten Satz nicht mehr aufhören zu lesen.
Ja, es gibt auch im neuheidnisch gewordenen Europa wahrhaft geistliche Aufbrüche, und die Sehnsucht der Menschen nach Gott ist viel größer, als wir denken.


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